Wie viele gehe ich im Moment jeden Tag spazieren, genieße den Frühling und den erlaubten Ausgang an der frischen Luft. Der Freund, bei dem ich danach kurz einkehre, ist auf dem Bau tätig. Nach wie vor geht er morgens zur Arbeit, setzt Türfüllungen ein, kachelt Wände und Böden. Gerade steht der Innenausbau einer Kneipe an. Es läuft hakelig, aber es läuft.
Ich frage ihn, was er von der Lage hält. Seine Antwort ist widersprüchlich. Klar gehe es darum, jetzt die alten und kranken Menschen zu schützen, zu verhindern, dass die Krankenhäuser zusammenbrechen. Das sei schon vernünftig. Trotzdem habe er den Eindruck, dass „das System“ gerade durchdrehe. Mal sehe es so aus, mal so – wie eine Münze, die geworfen wird: Man könne immer nur eine Seite sehen.
Auf dem Heimweg denke ich darüber nach. Ja, es ist ein unwirklicher Zustand. Zu ihm gehört auch, dass Phrasen wie die vom „System“, das dieses oder jenes tue, auf einmal eine unheimliche Durchschlagskraft bekommen. Was ist das überhaupt: das System? Wir wissen, dass es kein lebendiges Wesen ist, aber immer wieder sprechen wir so, als wäre es eins.
Vorsehung? Geheimer Plan?
Systeme, so hat es der Soziologe Niklas Luhmann formuliert, beruhen auf Kommunikation. Darin liegt: Kommunikation ist selbst kein System, sondern das Prinzip, durch das Teilsysteme wie Recht, Politik, Wirtschaft oder Kunst zusammenhalten und untereinander verkoppelt sind. Der Unterschied, auf den es hier ankommt, ist der zwischen „Handlung“ und „Kommunikation“. Eine Handlung ist auf eine Sache bezogen – ein Ding in der Welt, das ich als einzelnes Subjekt verändern will. An jedem Kommunikationsakt dagegen sind mehrere beteiligt; und er handelt immer von mindestens zwei Dingen, von einem bestimmten Sachverhalt nämlich und von der Kommunikation selbst: Indem ich einen Sachverhalt sprachlich vermittle, rede ich nicht nur über ihn, sondern implizit auch darüber, wie andere potenziell oder tatsächlich von ihm reden, geredet haben oder reden werden. Das erklärt, warum eine Handlung abgeschlossen werden kann, Kommunikation dagegen nie. Eine Handlung erschöpft sich im Vollzug, zum Beispiel wenn der Stuhl, den ich zimmern wollte, fertiggestellt ist. Diesen Erschöpfungspunkt gibt es im Feld der Kommunikation nicht. Sie läuft immer weiter.
Das war nicht immer so. Man kann den Unterschied zwischen modernem und vormodernem Denken grob so beschreiben, dass das vormoderne Denken Prozesse nach dem Muster der Handlung, das moderne nach einem Muster der Kommunikation beschreibt. Das ist philosophisch gesprochen gleichbedeutend mit dem Unterschied von Teleologie und Systemlogik. An die Stelle des Zweckes (des „Telos“), von dem her der ganze Prozess organisiert sein soll – religiöse Menschen sagen dazu „Vorsehung“, Verschwörungstheoretiker, ihre untoten Wiedergänger, reden von einem „geheimen Plan“ – tritt das System als einander durchkreuzender und miteinander kommunizierender Zwecke, das seine eigene Zukunft aus der Mitte eines anfangs- und endlosen Prozesses heraus generiert.
Auch wenn wir keine Verschwörungstheoretiker sind, verhalten wir uns gerade in Extremsituationen „vormodern“, zum Beispiel wenn wir einen Skiunfall, durch den ein uns nahestehender Mensch umgekommen ist, als „tragisch“ bezeichen. Wir unterwerfen dann ein Ereignis, zu dem viele Faktoren beigetragen habe, einer dramatischen Logik. Wir blenden, mit anderen Worten, den Zufall aus. Wir hadern immer noch mit Kontingenz, also mit dem Umstand, dass etwas so, aber auch anders sein könnte. Und wir hadern umso mehr, je mehr wir von Kontingenz umstellt sind – also auch in der gegenwärtigen Krise.
Wenn wir die Seuche als Strafe Gottes an den sündigen Menschen oder als Rache der Natur an unserer durch den Kapitalismus aufgeschwollenen Spezies auffassen, wird aus dem systematisch Prozessierenden eine Handlung mit einem tieferen Sinn. Offenbar lässt sich die Lage dadurch leichter ertragen – auch wenn so kein einziges Menschenleben gerettet wird.
Ohne den durch die allmähliche Verbreitung der Massenmedien bedingten „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ (Habermas) wäre die Dominanz von Kommunikation über Handlung im gesellschaftlichen Prozess unbemerkt geblieben. Massenmedien sind institutionelle Formate, die praktisch nur Akte der Kommunikation prozessieren – die eben auch Akte der Kommunikation über Kommunikation sind, also die Feedback-Mechanismen qualitativ und quantitativ verstärken (durch diesen Artikel zum Beispiel).
Dass sie aus der informellen Sphäre der mündlichen Kommunikation heraustreten, ist ein wichtiger Grund dafür, dass sie in der Philosophie, aber auch in Medienbeobachtungskontexten thematisch werden konnten. Dieser Überhang an Kommunikation verstärkt sich in Zeiten der Krise. Als hätte man eine Schleuse geöffnet, tost nun der Informationsfluss. Der Psychologe Stephan Grünewald hat mit Bezug auf die Corona-Krise gesagt: „Die Erregung hat sich ja schneller ausgebreitet als der Erreger.“ Das trifft das Problem recht gut. Das Verhältnis ist nicht linear, und es hat sich durch die Digitalisierung der Massenmedien noch einmal in Richtung des Kommunikationsparadigmas verschoben.
Nicht nur, dass seitens der Software neue Formate wie Twitter und Facebook entstanden sind. Wichtiger ist, dass sie durch eine neue Hardware – das Smartphone – überall zur Verfügung stehen. Eine weitere Gewichtsverschiebung findet dadurch statt, dass wir das, was uns bedroht, nicht sehen. Das Virus illustriert zwar als fast putziges Nupsi-Wesen ungezählte Zeitungsartikel. In Wahrheit lässt sich sich sein Wirken in keiner Weise mehr als Handlung deuten, sondern nur statistisch, also unanschaulich, erfassen. Es ist ja nicht einmal lebendig, seine Verbreitung hängt vielmehr von den Bedingungen seiner Rezeption ab. Darin besteht seine unheimliche Komplizenschaft mit der Information, die erst durch ihre Rezeption zu Kommunikation wird und soziale Wirkung entfalten kann.
Bei Grünewald klingt das nach in der Resonanz zwischen „Erregung“ und „Erreger“. Dass eine Information im Zeitalter der Kommunikation „viral geht“, ist mehr als ein Bonmot, sondern eine recht genaue Strukturbeschreibung. Es besteht eine mimetische Beziehung zwischen Kommunikationsprozess und Infektionsprozess. Träger und Reflektoren dieser Beziehung sind wiederum die Medien, die in Zeiten von Ausgangsbeschränkungen ohnehin ihre große Stunde haben.
Vermutlich ist es dieser Konkordanz geschuldet, dass es in den Medien praktisch nur noch ein Thema gibt, die Pandemie, was wiederum den Eindruck des Irrealen, verstärkt. Und obwohl Menschen sterben, obwohl das Gesundheitssystem mancher Länder kurz vor dem Zusammenbruch steht, obwohl es also belastbare Fakten gibt, trifft, wie ich meine, dieses Gefühl etwas Richtiges. Unsere Rezeption verselbstständigt sich und scheint ein eigenes, einigermaßen verrücktes Leben zu gewinnen.
Alles unter Vorbehalt
Daher, so scheint mir, rührt das Gefühl, das mir der Freund, von dem ich zu Beginn sprach, mitteilte – das Gefühl, sich in einem Traum zu befinden, der seinen eigenen Gesetzen folgt, die nicht der rationalen Kontrolle unterliegen. Wir fühlen uns wie in der berühmten Lithografie von A. Paul Weber, die er Das Gerücht nannte. Ich will damit nicht sagen, dass die Medien Gerüchte in die Welt setzen oder Gerüchten einfach folgen – die Dinge sind viel zu kompliziert. Aber das Gerücht, das dem Modell folgt: „Jemand hat gesagt, dass jemand gesagt hat“, bietet immerhin ein Modell, um zu verstehen, dass eine wahre Aussage denselben gesellschaftlichen Impact haben kann wie eine falsche und dass es in Zeiten beschleunigter Kommunikation, in denen Redaktionen manchmal nicht anders können, als voneinander abzuschreiben und sich im Zweifelsfall auf die Agenturmeldungen zu berufen, die das mitunter auch tun, sehr schwer ist, das eine vom anderen zu trennen.
Es ist fast unmöglich, in einer solchen Situation einen kühlen Kopf zu behalten, wenn es sich nicht entscheiden lässt. Das Einzige, was man tun kann, ist das, was mittlerweile auch etliche Experten (Virologen) selbst tun: das Gesagte unter die Vorzeichen des Vorläufigen stellen. Das nennt man Kontingenztoleranz. Wohin sie führt, ist einstweilen offen.
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