Was für ein toller Blödsinn

Bühne Abseits der Metropolen-Events zeigt sich, wovon das Theater wirklich lebt. Zum Beispiel in Chemnitz
Ausgabe 07/2019

Seit einigen Jahren gehe ich nicht mehr oft ins Theater. Der Grund ist, dass so wenig von den Besuchen bleibt. Ganz gleich, ob man sich ärgern musste, belustigt, ergriffen oder gerührt gewesen ist – nur kurze Zeit nachdem sich die Tore hinter einem schließen, ist das weg, runtergespült mit dem ersten Bier. Am nächsten Tag bereits fällt es schon schwer, sich an den Titel zu erinnern – so wie das Chemnitzer Stück Soll mir lieber Goya den Schlaf rauben als irgendein Arschloch.

Aber ist das so schlimm? Das Theater hat es nicht leicht. Der Film läuft ihm, was Breite und Komplexität der Handlung, Zahl der Charaktere und die Möglichkeiten ihrer Inszenierung angeht, längst den Rang ab; immer anspruchsvollere Computerspiele verwischen die Grenze zwischen Produzent und Konsument gründlicher, als es im Theater je möglich war. Das Einzige, was ihm noch bleibt, ist der Körper des Schauspielers, seine in der Aufführung nicht zu behebenden Fehler und Unvollkommenheiten. Das Theater heute ist wesentlich Schauspielertheater. In der Reduzierung darauf liegt seine Schwäche, aber auch sein (das schlimme Wort!) Alleinstellungsmerkmal. Alles andere ist bürgerliches Brimborium, reale oder eingebildete Nestwärme einer langsam untergehenden Schicht, deren kulturelle Selbstverteidigungsreflexe im Moment noch subventioniert werden.

Des grob Gedachten Körper

In der Provinz zeigt sich das auf eine besonders typische Art und Weise. Es fehlen die Touristen, die sich in Scharen Kulturereignisse zu Gemüte führen, für die sie zu Hause weder Zeit hätten noch Geld auszugeben bereit wären. In den Metropolen sorgen sie für ausverkaufte Häuser und geben der bürgerlichen Kultur einen Anschein von Profitabilität. In der Provinz kommt heraus, was die Leute wirklich interessiert. In Dresden war Das blaue Wunder, Thomas Freyers und Volker Löschs umstrittenes Stück über die AfD, drei Tage vor der Premiere noch nicht ausverkauft; dasselbe galt für Hauptmanns Einsame Menschen in Chemnitz.

Womit ich beim Thema wäre. Neulich die Premiere vom Rodrigo Garcías Soll mir lieber Goya ... im Ostflügel des Chemnitzer Schauspielhauses. Die war ausverkauft, aber die kleine Experimentalbühne fasst auch nur circa 80 Zuschauerplätze. Das Einpersonenstück handelt von einem alleinerziehenden Vater in Nordspanien, der sein Erspartes zusammen mit seinen überbraven, hochbegabten Söhnen (sechs und elf Jahre) in einer einzigen Nacht auf den Kopf hauen will: Bars (!) Bordelle (!!) und dann am Ende in den Prado einbrechen, um sich die ganze Nacht Goyas Gemälde (!!! – obwohl, das ist für diese Jungs vielleicht ja okay) anzusehen. Ach ja, Sloterdijk wird auch noch aus Wien eingeflogen.

Hört sich furchtbar an und in gewisser Hinsicht ist es das auch. Es geht wohl um einen Generationskonflikt zwischen „uns“ (der Schauspieler hatte etwa mein Alter), den, jawoll, faustisch Irrenden, jedenfalls zum Hoch- wie Tiefgenuss Fähigen, und „unseren“ heutzutage überangepassten Kindern. Was für ein Klamauk und Blödsinn! Und doch war es ein unterhaltsamer, wenn auch schnell verpuffender Abend. Alles beruht hier auf der Fähigkeit des Schauspielers, dem absichtlich grob Gedachten einen Körper zu geben.

Das Stück, wie gesagt, ein um die Ahnung eines Konflikts herum angeordneter Klamauk. Regie: nicht weiter auffällig. Aber der Hauptdarsteller Dirk Glodde hatte einen großen Abend. Er war souverän, witzig, präsent – und er schien wirklich an den ganzen Unfug zu glauben. Leben verlieh er ihm aber vor allem durch einen Kunstgriff, der das Stück außerhalb von Sachsen in dieser Form unausführbar gemacht hätte: Er hat nämlich Dialekt gesprochen – das Dresdner Singsangsächsisch, manchmal mit dem etwas raueren Chemnitzer Einschlag. Dem oft nur flüchtig zusammengesteckten Patchwork der Gags gab das Farbe, Grund, Körper. Lars Eidinger hat das Stück vor Jahren im Thalia-Theater aufgeführt. Ich kenne es nicht. Aber wenn man es so sieht wie hier, fällt es schwer, es sich anders vorstellen.

So war der Abend eben typisch – typisch und beispielhaft für die Funktion, die das Sprechtheater heute noch einnehmen könnte. Es sei: gute Unterhaltung, Komödie, höheres Kabarett. Man denke einmal darüber nach, wie viele Klassikerinszenierungen der letzten Jahre letztlich auf diese Formel zu bringen sind. So viel und nicht mehr ist vom epischen Theater übrig geblieben, dessen komischer Bodensatz jetzt fast allein herrschend geworden ist.

Die Frage ist, ob man das als Kulturverfall beklagen soll. Vielleicht ist es ja sogar der Normalzustand – für Tragödien jedenfalls sind die Zeiten zu schlecht, zu hoffnungslos. Bleiben Trauerspiele und Komödien. Wenn wir nicht resignieren wollen – auch dafür gibt es Beispiele auf dem Theater, großartige, wie etwa die Inszenierung von Agota Kristofs Das große Heft am Staatsschauspiel Dresden –, brauchen wir ein paar Anlässe, um über den ganzen Irrsinn lachen zu können. Daher die ungeheure Bedeutung des komischen Genres auf allen Kanälen. In hoffnungsarmen Zeiten, in denen die Kraft zur pathetischen Erhebung schwindet, zur tragischen Analyse kein Anlass ist und die ernsten Stücke, wenn sie was taugen, auf Apathie hinauslaufen, ist Humor eine Überlebensstrategie, eine höchst legitime, humane Haltung.

Soll mir lieber Goya den Schlaf rauben als irgendein Arschloch von Rodrigo García, Regie Esther Undisz Theater Chemnitz, Termine noch bis zum 26.04.

Wolfram Ette ist in Bielefeld geboren und aufgewachsen. Er studierte Literaturwissenschaften in Berlin und Paris, machte Station in Freiburg und lebt heute in Chemnitz

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