Half-Lie

Divers Sind Games nur für picklige Jungs ein Ding? Sie waren es nie. Sexismus kennt das Genre trotzdem
Ausgabe 16/2019

Meine Missionen bekomme ich im postapokalyptischen Washington hauptsächlich von Frauen. Sie sind diejenigen, die mich schicken, um Geiseln zu befreien, Siedlungen aufzubauen oder Vergeltungsschläge durchzuführen. Doch damit nicht genug: Im Frühjahrshit Tom Clancy’s The Division 2, einem Shooter aus dem Hause Ubisoft, sind zufällig erscheinende Verbündete und Gegner paritätischer besetzt als der Deutsche Bundestag. Und natürlich kann ich selbst meine Heldin so gestalten, wie ich sie mir vorstelle.

Schöne, heile, diverse Gamingwelt also – oder? In den meisten erfolgreichen Videospielen der vergangenen Jahre sind nicht nur Frauen, sondern auch verschiedene Ethnien so vertreten wie nie. Sieht man sich allein das Promo-Material des Megahits Fortnite oder des Überraschungserfolgs Apex Legends an, so könnte man meinen, die Gamingszene hätte ihre Sexismusprobleme inzwischen hinter sich gelassen. Doch haben sich Industrie und Fans tatsächlich nur wenige Jahre nach ausschweifenden Skandalen und internationalen Belästigungskampagnen wirklich weiterentwickelt, nur weil wir jetzt öfter Frauen spielen können? Oder sind die vielfältigen Charaktere eher Ausdruck gewiefter Marktanalyst*innen, die wissen, was Geld bringt?

Um diese Frage besser zu verstehen, lohnt es sich, mit einem Missverständnis aufzuräumen: dem, dass Frauen keine Gamerinnen seien. Das ist aber Unsinn. Egal ob in den USA, wo mittlerweile zwei Drittel der Bevölkerung Videospiele spielen, oder in Deutschland, wo es etwa jeder Zweite ist: Der Anteil der Frauen liegt stets bei nur etwas unter 50 Prozent. Trotzdem hält sich hartnäckig das Gerücht, Frauen wären nie ein ursprünglicher Teil der Szene gewesen und hätten erst seit wenigen Jahren „angedockt“. Gleiches sagt man über die Repräsentation von LGBTQ-Inhalten in Spielen. Eine Ausstellung im Berliner Schwulen-Museum zu queerer Videospielgeschichte zeigt unterdessen eindrucksvoll, dass sowohl weibliche als auch queere Personen schon immer Teil der Gamingszene waren. Und zwar als diejenigen, die die Spiele erschufen, die in den Spielen vorkamen und die die Spiele konsumierten. Sie wurden nur mehrere Jahrzehnte vernachlässigt. So sehr, dass manche queere Spiele über Jahrzehnte als verschollen galten, wie etwa Caper in the Castro. Dem LGBTQ-Gamesarchiv zufolge können Spieler*innen in dem schon 1989 veröffentlichten Spiel in die Rolle der lesbischen Detektivin Tracker McDyke schlüpfen.

Einen Grund für dieses Missverständnis kann man im Verständnis von Gaming als Teil einer „Nerdkultur“ suchen, die bis vor Kurzem immer noch mit männlichen Charakteren wie den verschrobenen Physikern aus der Comedyserie The Big Bang Theory gleichgesetzt wurde. Die Hobbys, die sich heranwachsende, oft schüchterne Männer suchten, um sich mit Gleichgesinnten zu vernetzen, sind jedoch nicht per se männlich. Gaming ist ein wachsender Markt: Laut dem deutschen Branchenverband „game“ betrug der Umsatz im Gamingbereich im Jahr 2017 über 3,3 Milliarden Euro. Ganze 34,3 Millionen Menschen in Deutschland spielen Videospiele, knapp die Hälfte davon sind Frauen. Gaming ist also längst so im Mainstream verortet wie Kinobesuche oder Netflix. Eine in sich geschlossene Subkultur, der nur wenige angehören, sieht anders aus.

Missverstanden fühlen sich dennoch viele Gamer*innen. Männer, weil sie „ihre“ Welt öffnen sollen. Frauen, weil sie häufig unsichtbar gemacht oder gar angefeindet werden. Sexismus ist in der Szene nach wie vor weitverbreitet. So weit, dass die Betreiber der internationalen Community-Plattform Reddit am ersten April dieses Jahres die Kommentare im Unterpunkt „Gaming“ schlossen, um auf das vergiftete sexistische, rassistische und queerfeindliche Klima hinzuweisen. „Dadurch, dass wir Minderheiten oder marginalisierten Communitys widerwillig gegenüberstehen oder sie gar ganz ablehnen, igeln wir uns immer mehr ein“, schrieben die Moderator*innen und referierten die männlich geprägte Diskussionskultur. Das Problem sei eines, das viele Seiten auf Reddit und anderswo im Netz beträfe, häufig jene, die dem Gaming nahestünden, hieß es weiter.

Vielfalt verkauft sich gut

Die Reaktionen waren eindeutig: Die überwältigende Mehrheit der Leser*innen bedankte sich für die Aktion und gab konstruktives Feedback. Das war nicht unbedingt zu erwarten, denn die Gamingszene hat nicht zuletzt seit den Gamergate-Vorfällen immer wieder mit Belästigungskampagnen gegen marginalisierte Personen zu kämpfen – oder all jenen, die ihnen beistehen. Gamergate?

Der Vorfall begann im Sommer 2014, als ein gekränkter Ex-Freund der amerikanischen Spieleentwicklerin Zoë Quinn eine Verleumdungskampagne gegen sie startete. Er behauptete, sie hätte sich gute Rezensionen zu ihrem Spiel Depression Quest durch sexuelle Gefälligkeiten erschlichen. Als die Vorwürfe bekannt wurden, entlud sich zuerst an Quinn, später an einer Vielzahl weiterer Ziele der angestaute Frust verunsicherter Männer, die „ihr“ Hobby Gaming durch Frauen und Minderheiten bedroht sahen. Die Belästigungswelle beschäftigte später das FBI. Eine große Gruppe männlicher Videospielkonsumenten wollte all jene Medien und Publisher boykottieren und zur Rechenschaft ziehen, die ihren Interessen entgegenstanden – also allen, die Marginalisierte zu Wort kommen ließen und für eine progressive Haltung standen. Jede*r, der eine (queer-)feministische oder anti-rassistische Haltung hatte, war zum Abschuss freigegeben. In Folge von Gamergate verließen viele Marginalisierte, häufig Frauen, die Gamingszene oder mieden gar komplett die sozialen Medien. Auch Zoë Quinn erfährt fast fünf Jahre später immer noch Hass, nicht zuletzt, weil sie nicht müde wird, die sexistischen Mechanismen der Gamergate-Kampagne aufzuzeigen, die dieser zugrunde liegen.

Die Spieleindustrie erholte sich nur langsam von den Folgen. Die anfängliche Verwirrung darüber, ob die Kampagne nicht doch tatsächlich eine ernst zu nehmende Boykott-Bewegung von Konsumenten sei, sorgte für eine falsche Priorisierung von Fan-Interessen. Mehrere Entwickler*innen wurden in den vergangenen Jahren von ihren Arbeitgebern ermahnt oder sogar sanktioniert, wenn sie auf Twitter auf Kritik von Fans reagierten und im Zweifel feministische oder anti-rassistische Positionen einnahmen. Gründe für die Wirkmächtigkeit des Gamergates waren das mangelnde Verständnis vieler außenstehender Medien und Beobachter*innen der Szene einerseits und die mancherorts inhaltlich geteilte Nähe zu den Zielen von Gamergate von Brancheninsidern andererseits. Der Vorfall offenbarte, wie sehr sich noch immer einige Vertreter von Industrie und Spielemedien gegen eine offene und diverse Szene wehrten.

Die Gamingszene wächst in den Mainstream, und die zugehörigen Wachstumsschmerzen bekommen vor allem Frauen und Minderheiten zu spüren. Gleichzeitig gibt es aber auch Bestrebungen, die Protagonist*innen in Videospielen vielfältiger zu machen und Inhalte für eine diverse Zielgruppe zu liefern. Dass popkulturelle Werke mit vielfältigen Storys über und mit Frauen oder nicht weißen Personen erfolgreich sind, sollte angesichts der breiten Konsumentenbasis nicht überraschen. Die eingangs erwähnten Spiele The Division 2, Apex Legends oder Fortnite arbeiten daher auch so selbstverständlich mit Charakteren verschiedener Ethnien und Geschlechter – in Apex Legends gibt es sogar nicht binäre Helden –, dass sie gar keiner großen Erwähnung mehr bedürfen. So sollte es sein, so verkauft es sich gut.

Das kennt man nicht zuletzt von einer anderen „Nerdkultur“, die ebenfalls längst keine mehr ist: Comicverfilmungen. Der mit einer Frau in der Hauptrolle besetzte Film Captain Marvel knackte die Marke von einer Milliarde US-Dollar Umsatz, zuvor war Wonder Woman ein Erfolg. Obwohl Männergruppen online zuvor dazu aufgerufen hatten, Captain Marvel zu boykottieren, um gegen die zunehmende Diversität zu protestieren, brachte das nichts. Die große Masse an Frauen und Fans jeglicher Ethnie freut sich über gut gemachte Repräsentation – egal ob im Kino oder beim Gaming.

Ende gut, alles gut? Nicht ganz. Denn Teile der Gamingszene verteidigen noch immer mühsam „ihre“ Nerdkultur, die selbst zu Anfangszeiten nie wirklich ihre alleinige war. Diese Toxizität gipfelte kürzlich in einem besonders abstoßenden Spiel, das auf der Plattform Steam veröffentlicht werden sollte. In Rape Day sollte den Spielern ermöglicht werden, Frauen zu vergewaltigen. Ein Sammelbecken für Gewaltfantasien. Der Skandal ließ nicht lange auf sich warten. Nicht nur Frauen, sondern auch viele Männer, für die ebensolche Frauen- (und Männer-)Bilder längst zur Vergangenheit gehören, wehrten sich massiv. Steam sah sich gezwungen, das Spiel nicht zu veröffentlichen. Allerdings nicht wegen der fragwürdigen Inhalte, wie die Betreiber der Plattform betonten, sondern aufgrund der befürchteten resultierenden „unbekannten Kosten und Risiken.“ In anderen Worten: Hätte man einen Profit bei Rape Day vermutet, wäre das Spiel unter der Fahne der Meinungsfreiheit auf der Plattform erschienen.

Vielleicht ist dieses Beispiel unfreiwillig repräsentativ dafür, wie die Gamingszene aktuell mit Diversität umgeht. Vielfalt, ja – und solange sie sich verkauft, wird auch der Backlash von trotzigen Männern ausgehalten. Ein wirkliches Verständnis dafür, dass ein Kulturwandel eine gesamte Industrie und Fanszene von Grund auf durchziehen und verändern wird – und muss! –, scheint noch auf sich warten zu lassen.

Dr. Yasmina Banaszczuk ist freie Journalistin und Autorin. Sie schreibt über Diversität, Gaming und Netzkultur

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