Viele Entwicklungs- und Schwellenländer stehen durch die Corona-Pandemie vor einer ernsten Wirtschaftskrise. Die Auswirkungen könnten schlimmer werden als nach der globalen Finanzkrise von 2008/2009. Die Länder verzeichnen einen massiven Kapitalabfluss und rapide sinkende Staatseinnahmen. Investoren flüchten in der Corona-Krise in den sicheren Dollar. Allein im März haben sie Anlagen im Wert von 83 Milliarden US-Dollar aus den Anleihe- und Aktienmärkten der Entwicklungs- und Schwellenländern abgezogen. Die Abflüsse sind viermal größer als zur Finanzkrise von 2008/09. Als Ausgleich müssten die Länder jetzt höhere Exporteinnahmen in US-Dollar generieren. Der weltweite wirtschaftliche Stillstand führt jedoch zum genauen Gegenteil.
Für 91 Entwicklungs- und Schwellenländern Afrikas, Lateinamerikas und Mittelasiens machen Rohstoffexporte mindestens 60 Prozent der Exporteinnahmen aus. Weil die Nachfrage aus den Industrieländern ausbleibt, sind die Preise für Erdöl, Erze und Metalle, aber auch Nahrungsmittel wie Kakao oder Zucker stark gesunken. Auch der Tourismus kommt in den Ländern des globalen Südens durch die Corona-Pandemie fast vollständig zum Erliegen. Die UNCTAD, eine UN-Organisation für Entwicklung und Handelsfragen, geht davon aus, dass die Schwellen- und Entwicklungsländer (China nicht inbegriffen) insgesamt fast 800 Milliarden US-Dollar an Exporteinnahmen verlieren werden.
Durch den wirtschaftlichen Stillstand in den westlichen Ländern sinken auch die Rücküberweisungen, die Migrant*innen an Angehörige in ihren Heimatländern überweisen. In vielen Entwicklungsländern machen diese Überweisungen zwischen fünf und bis zu 30 Prozent des Bruttoinlandsprodukts aus. Dadurch fallen Milliarden US-Dollar an Einnahmen weg. Zu all dem kommt der Stillstand der einheimischen Wirtschaft hinzu. Mehrere dutzend Länder des globalen Südens haben Ausgangsbeschränkungen erlassen, sodass sich die lokale Produktion verlangsamt oder zum Stillstand kommt. Das hat massive Auswirkungen auf die Einkommen der Menschen und die Steuereinnahmen der Staaten.
In vielen Ländern drohen deshalb neue Schuldenkrisen. Allein dieses Jahr müssten die Länder mit niedrigem und mittlerem Einkommen 415 Milliarden US-Dollar an Schulden zurückzahlen, so die UNCTAD. Das wird erschwert, weil Investoren ihr Kapital in den letzten Wochen aus den Entwicklungs- und Schwellenländern abgezogen haben. Eine Refinanzierung der Schulden am Kapitalmarkt ist dementsprechend sehr teuer. So verwundert es nicht, dass sich mittlerweile 102 Länder an den Internationalen Währungsfonds (IWF) gewandt haben, um Kredite zu erhalten. Der IWF hat Schuldenerleichterungen für mittlerweile 29 Mitgliedsstaaten beschlossen. Die G20-Staaten der wichtigsten Industrie- und Schwellenländer schlossen sich am 15. April mit bilateralen Schuldenerleichterungen an. Vom 1. Mai bis zunächst Ende 2020 müssen die ärmsten 76 Staaten und Angola ihre Schulden bei den G20-Ländern nicht bedienen. Dadurch werden circa 20 Milliarden US-Dollar an Mitteln frei.
Erlass statt Stundung
Entwicklungspolitiker*innen wie Eva-Maria Schreiber (Die Linke) und Uwe Kekeritz (Die Grünen) fordern einen umfassenden Schuldenerlass statt einer befristeten Aussetzung des Schuldendienstes. Schreiber fordert: „Neben den bilateralen Gläubigern müssen auch Private ins Boot geholt werden.“ Das Institute of International Finance, die Interessenvertretung von 450 Banken, Hedge Funds und Finanzfirmen, hat immerhin Zustimmung zu einer befristeten Schuldenerleichterung für die ärmsten Länder signalisiert. Allerdings muss auch nur ein gutes Dutzend dieser Länder mehr als 20 Prozent seines Schuldendienstes an private Gläubiger leisten. Der Ökonom Ulrich Volz, Vorsitzender des Centre for Sustainable Finance an der Universität London, sagt, es sei wichtig, „jenseits von Selbstverpflichtungen der privaten Gläubiger rechtliche Lösungen für Schuldenerleichterungen zu finden, die dann insbesondere in den wichtigsten Finanzplätzen gelten.“
Etwas Druck aus dem Kessel hat die US-amerikanische Zentralbank (Fed) genommen. Durch ein Rückkaufprogramm ermöglicht sie es fast allen nationalen Zentralbanken, US-Anleihen in US-Dollar umzutauschen. Dadurch ist der Zugang zu knappen Devisen für jene Länder gesichert, die US-Staatsanleihen halten.
Die USA blockieren
Doch damit sind nicht alle Probleme gelöst. Die UNCTAD schätzt, dass die Entwicklungs- und Schwellenländer Ausgaben von 2,5 Billionen US-Dollar tätigen müssten, um den Corona-bedingten wirtschaftlichen Abschwung zu bekämpfen. Ein Teil dieser Ausgaben könnte durch den IWF finanziert werden. Der Fonds kann derzeit etwas mehr als 400 Milliarden US-Dollar für Kredite aufwenden. Zahlreiche Ökonom*innen fordern eine Kapitalaufstockung, damit die betroffenen Staaten größere Kredite beim IWF aufnehmen können. Doch die USA, die als einziger Staat eine Sperrminorität im IWF besitzen, lehnen eine solche Aufstockung bisher ab.
Nicht nur in Finanz- und Wirtschaftsfragen sind die Entwicklungs- und Schwellenländer auf externe Solidarität angewiesen. Die New York Times berichtet, dass viele Länder große Probleme haben, an Material für Corona-Tests und an Schutzausrüstung zu gelangen, „weil die USA und EU-Staaten sie durch ihre Finanzkraft ausstechen“. Südafrika hat zwar mehr als 200 öffentliche Testlabore und übertrifft damit Länder wie Großbritannien. Das Land muss die Chemikalien für Corona-Tests aber importieren. Auf dem Weltmarkt „tobt ein Krieg“ um Testmaterial, sagt die Chefin der Foundation for New Innovative Diagnostics, Catharina Boehme, die mit der Weltgesundheitsorganisation zusammenarbeitet, um ärmeren Ländern Zugang zu Material zu ermöglichen. Die Schwierigkeiten, an Chemikalien zu gelangen, gefährde Südafrikas Kampf gegen die Pandemie, so ein Infektionsexperte, der die dortige Regierung berät. Auch UNICEF versucht 240 Millionen Masken für 100 Entwicklungs- und Schwellenländer zu besorgen. Vor zwei Wochen waren davon laut New York Times erst 28 Millionen beschafft.
Ghanas Finanzminister Ken Ofori-Atta fasst die Situation vieler Länder des globalen Südens in der Financial Times emotional zusammen: „Dies ist kein vorübergehender Schneesturm, eher ein langer Winter, eine Mini-Eiszeit. Um ehrlich zu sein, habe ich einen Kloß im Hals, wenn ich an die missliche Lage Afrikas denke.“
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