Wahrscheinlich kommt es nur selten vor, dass zwei zeitlich weit auseinander liegende Bücher ein und des selben Autors so deutlich miteinander korrespondieren wie Sándor Márais späte Tagebücher (der letzte Satz stammt von 1989) und seine Bekenntnisse eines Bürgers, die im ungarischen Original 1934 erschienen waren.
Die beiden Werke, besser: Schriften, bestätigen gegenseitig eine Reihe von Ansichten und Gedanken. In den Bekenntnissen notiert Márai Anfang der dreißiger Jahre, dass für ihn als Ausdrucksmittel nur "der schriftlich niedergelegte Gedanke" in Frage komme, dass er an einem "einheitlichen Werk" arbeite und: "über die Gelegenheitsaufgaben hinaus bin ich von diesem ÂGanzen besessen". 25 Jahre später dient er nach wie vor diesem Ganzen, indem er jahraus, jahrein seine Tagebücher schreibt.
Sowohl in den Bekenntnissen eines Bürgers als auch in den (bürgerlichen) Tagebüchern geht es um Protokolle über die Gegenwart und das eigene Jahrhundert - nicht um Fiktionen oder um erfundene Dialoge. Und vielleicht zählen im Lichte dieser Protokolle die Fiktionen, nämlich Márais' hoch gelobte Romane, zu den "Gelegenheitsaufgaben", oder womöglich bedeuten sie die Flucht vor der Hauptaufgabe. Immerhin hebt Márai schon in seinen Bekenntnissen seine Neigung zum Fliehen hervor. "Dieser Drang zur Flucht (...) bricht in gewissen Lebensperioden auf, sprengt meinen Lebensrahmen und treibt mich in peinliche, unangenehme Krisen. So floh ich später vor dem für mich vorgesehenen Beruf ...", dann zählt er weitere Fluchtmöglichkeiten auf.
Diese Unruhe brach in seiner Studienzeit mit einer immensen Kraft durch, Leipzig, Berlin, Frankfurt, Paris, verschiedene Frauen, verschiedene Universitäten und Arbeitstätten ließ er innerhalb von wenigen Jahren hinter sich. Der Rückblick auf diese gewissermaßen veruntreuten, aber fruchtbaren Stationen nimmt etwa ein Drittel seiner Bekenntnisse in Anspruch. Von diesem Drittel abgesehen, trifft man auf einen Mann mit gerade entgegengesetzten Charakterzügen, auf einen Schriftsteller, der das Vergangene zu konservieren versucht und die Stadt seiner Kindheit und Jugend zum Leben erweckt. Er zeichnet die damals ungarische Stadt Kaschau, die inzwischen zur Slowakei gehört, beschreibt sein Elternhaus bis in die Küche, bis ins Bad hinein, zeigt die Bediensteten, den Vater beim Frühstück, das eigene Kinderzimmer samt Hauslehrer, die jüdischen Mitbewohner, und als hätte er einen Stein ins Wasser geworfen, zieht er immer weitere Kreise um das Privateste, ohne dass diese Kreise taktisch oder dokumentierend wirken würden. Selbst die entfernten Tanten und Professorenonkel, die tanzenden Wiener Cousinen wachsen zu unverlierbaren Gestalten. Immerzu möchte man sich mit Márai freuen, dass er das alles treu eingefangen hat.
Und als es ihn als Student ins Ausland, ins Turbulente zieht, geht es bald doch auch um Treue. In Berlin begegnet er Lola, einer Frau aus seiner Stadt, der er also schon früher hätte begegnen können, und mit der er - die Tagebücher bezeugen es - sein ganzes langes Leben verbringt. Flucht und Treue, so hätte Márai sein "Ganzes", sein Werk, betiteln können.
Zwölf Jahre nachdem die Bekenntnisse eines Bürgers erschienen, emigrierte Sándor Márai aus Ungarn angesichts der einbrechenden Diktatur. Etwa von da an datieren seine Tagebücher. Aus den Jahren 1945 bis 1983 stammt Band eins der deutschen Ausgabe: lediglich zwanzig Seiten, die für beinahe vierzig Jahre Emigration herhalten wollen. Band zwei enthält Aufzeichnungen aus den letzten fünf Lebensjahren Márais, auch sie leicht gekürzt. Was kann man über ausgewählte Tagebuchnotizen sagen? Die täglichen Eintragungen bedeuten von vornherein nur eine Auswahl. Jetzt haben wir eine Auswahl der Auswahl, und wer darüber redet, wählt weiter aus. Das kann nicht gut gehen.
Die Tagebücher berichten von der täglichen Lektüre, von einer zunehmenden Einsamkeit, und sehr oft beschäftigen sie sich mit dem Tod. "Diese Menschen sind weggegangen, ohne mir etwas gesagt zu haben, das wichtig war", und was sie nicht gesagt haben "war ihr Selbst, dieses Geheimnis war ihre Persönlichkeit", bemerkt Márai 1968. "Was außer dem Sein kann das Alter noch geben? Nichts. Ich verstehe diejenigen, die dem Ende vorgreifen", schreibt er 1985, und vier Jahre später - inzwischen war L., seine Frau, gestorben, er hatte sich auf das Ende lange bewusst vorbereitet - nimmt er sich durch einen Pistolenschuss das Leben. Ein Schriftsteller, der bis zuletzt pflichtbewusst seine Gedanken niederlegt, nimmt sich mit 89 Jahren das Leben, und der Leser ist mit dabei.
40 Jahre lang musste das Tagebücher-Schreiben dem Emigranten die Öffentlichkeit ersetzen. Wie die oft beschworene Einsamkeit allerdings aussah, und wieviel Öffentlichkeit in San Diego dann doch mitspielte, ist schwer zu beurteilen. (Beispielsweise erhält er am 11. April 1985 Geburtstagsgrüße von US-Präsident Ronald Reagan und Gattin.) Sicher aber fühlte sich Márai in den Staaten als Fremdling, seine Literatursprache war bis zuletzt ungarisch, immer mehr schaute er nur noch in die Vergangenheit zurück - die amerikanische Umgebung spielte in den Tagebüchern kaum eine Rolle.
Dieses Festhalten an der ungarischen Sprache ist doppelt interessant, wenn man in Erwägung zieht, dass Márais ursprünglich deutschstämmige Familie ihrerseits über Jahrhunderte an der deutschen Sprache festgehalten und den Sohn deutschsprachig erzogen hatte.
Auf alle Fälle ist das, was er durch seine Abgewandtheit in den Tagebüchern nicht beschrieb, nicht sah, nicht konservierte, ebenfalls interessant. Bis zuletzt wollte er die allmählichen Veränderungen in Ungarn nicht wahrhaben, und die Öffnung, die sich in den achtziger Jahren vollzog, hielt er bloß für eine Taktik der Regierung. Die namhaften Autoren seines Landes, Tibor Déry, Miklós Mészöly, György Konrád oder Péter Nádas, die weit über die Grenzen bekannt waren, wollte der enttäuschte, immer leicht brummige, konzentrierte, kluge Márai wohl nicht wahrnehmen.
Widerspenstig war er auch anderen literarischen Zeitgenossen gegenüber, zum Beispiel nannte er den gleichaltrigen Borges einfach nur "begabt", und auch außerhalb der Literatur schlug er manchmal einen merkwürdigen Ton an: "Onkel Tom fährt heute Auto, geht frei aus und ein in Restaurants, kann es auf allen Arbeitsgebieten zu etwas bringen, wenn er befähigt ist, doch das ist er nicht immer". Keine schöne Bemerkung. Allerdings hatte er schon in den Bekenntnissen über die eigene Überheblichkeit nachgedacht, die habe er von seinem Großvater mütterlicherseits geerbt: "so leben in mir auch seine Bewegungen, sein Lachen, (...) eine gewisse Laxheit und Hochnäsigkeit".
In den Bekenntnissen eines Bürgers hat Sándor Márai mit seinen 34 Jahren nicht nur die alte Welt eingefangen, sondern gewissermaßen sogar die eigene Zukunft, zumindest die eigene Haltung in der Zukunft vorweggenommen, und schon damals war die "Bürgerliche Geistigkeit" sein Losungswort. Die Bekenntnisse und auch die späten Aufzeichnungen hat Hans Skirecki in eine ausgeglichene, glaubwürdige Sprache übertragen.
Sándor Márai: Bekenntnisse eines Bürgers. Erinnerungen. Piper Verlag, München 2000, 420 S., 19,90 DM
Tagebücher Band 1, Auszüge, Fotos, Briefe und Dokumentationen, 105 S., DM 32,- DM; Tagebücher Band 2, 1984-1989, 155 S. 38,- DM, beide: Oberbaum-Verlag, Berlin 2000
Alle drei Bände aus dem Ungarischen von Hans Skirecki
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