Neben dem großen europäischen Kriegsschauplatz gab es mindestens einen Nebenkampfplatz. An diesem Ort wurden öffentliche Diskussionen mündlicher und schriftlicher Art ausgeführt. Über die Vertreibung der Kosovo-Albaner kann man nichts sagen, dazu kann wirklich niemand mehr etwas sagen, und selbst wenn alle Schriftsteller, die mitgesprochen haben, eine Flüchtlingsfamilie aufgenommen hätten oder längst an der Südgrenze des Kosovo stünden, um auf irgendeine Weise zu helfen, wäre es bei dem Unrecht geblieben, das die Kosovo-Albaner bereits erlitten haben. Jeder einzeln.
Also haben wir über zwei Monate ohnmächtig den Vertreibungen zugeschaut und über die NATO-Einsätze geredet. Merkwürdig ist dabei, merkwürd
kwürdig, erstaunlich und erschreckend, daß die Äußerungen immer auf ein Pro oder Contra der Bombardierungen hinauswollten. Vielleicht sind es die Autoren selbst und nicht die Schriftsteller, die das wollten, nur können sich die Schriftsteller nicht wehren (es gab einen zusätzlichen Krieg zwischen den Antworten und den Autoren).Ein gleichbleibendes Pro oder Kontra für die NATO-Einsätze, seit Wochen, während sich die Bombardierungen ständig veränderten, sich nämlich verstärkten. Wie bei einem Schachspiel schien es trotz der Veränderungen nur die Möglichkeit zu geben, weiße oder schwarze Figuren zu wählen. Die weißen standen für die Bombardierungen, und wer diese Figuren in die Hand nahm, tat, als seien die Spieler mit den schwarzen Figuren für die Vertreibungen aus dem Kosovo. Denn wer sich nicht wehrte, war für das Unrecht. Und zweitens standen die Schachspieler mit den schwarzen Figuren auch noch da, als seien sie nicht recht informiert. Das hieß: die Weißen waren gut informiert. Ich weiß nicht, wie man in diesem Fall ausreichend informiert sein konnte, ich befürchte, daß man sich noch Jahre lang mit ungeklärten Einzelheiten beschäftigen muß, selbst wenn das Friedensabkommen endlich wirklich zustandekäme. Daher verstand ich das eindeutige Ja der Bombardierungsbefürworter gar nicht.Aber ohnehin bin ich in kriegstechnischen Dingen absolut phantasiekrank, schon in Krieg und Frieden war ich außerstande, mir vorzustellen, wie jene Heere und Heeresflügel voranschritten, alle zusammen, keiner scherte aus, die Gegner kamen ebenfalls voran, auch von ihnen hielten alle mit, kampfbereit, sterbebereit, alle im Einklang, zwei große Einheiten: das blieb für mich unvorstellbar, vergebens hat Tolstoj noch so gute Beschreibungen geliefert.Und bei den »alten Kriegen« ging es zunächst einmal nicht um Zivilisten, jetzt aber waren sie bei den NATO-Angriffen auch betroffen. Und die Nichtzivilisten? Das waren nicht allesamt freiwillige Soldaten, unter ihnen gab es etliche Unfreiwillige, viele, die gerade desertieren wollen, viele, die gar nicht Serben waren, es waren zum Beispiel auch unfreiwillige Ungarn unter den Nichtzivilisten, Ungarn, die in der Vojvodina leben. Die serbischen Stellungen wurden bombardiert, und in diese serbischen Stellungen waren wehrpflichtige, nicht unbedingt freiwillige, nicht unbedingt serbische Männer in einem bestimmten Alter.Aber jetzt bin ich immer noch am Rande von Ja oder Nein bezüglich des NATO-Eingriffes, obwohl ich zu einem anderen Rand wollte.Einer der Schriftsteller - ich möchte durchweg keine Namen nennen, um den Sonderkampf auf dem Nebenschauplatz nicht nachträglich weiter anzuheizen, einen Kampf, bei dem nebenbei Schriftsteller-Namen hochgespielt wurden - einer der Mitreisenden klagte die serbischen Intellektuellen an, denn diese serbischen Intellektuellen meldeten sich nur gegen die Bombardements zu Wort, nicht aber wegen der Ungerechtigkeiten den Kosovo-Albanern gegenüber. Das ist wirklich bedrückend, aber den ersten Stein hätten die Intellektuellen eines Landes werfen sollen, die solche Fehler nicht begangen hätten.Alle! Alle serbischen Intellektuellen? Dieses Alle ist ziemlich verhängnisvoll. Ständig ging es um alle, wahrscheinlich erleichterte das die Übersicht, und gleichzeitig beschwichtigte es das Gewissen. Mit diesem Alle brauchte man sich keine Details mehr vorzustellen, die unklaren Mitleidsgeschichten fielen automatisch weg, und das Recht schien klarer ersichtlich.Vor einiger Zeit war Danilo Kis ein vielgeliebter serbischer Schriftsteller (aus der Vojvodina), Tisma (aus der Vojvodina) war noch gerade zu Jahresbeginn ein gefeierter Mann der Literatur (und es wären weitere Namen aufzuzählen, zum Beispiel Pavic, um bei der Vojvodina zu bleiben). Wir haben sie geschätzt. Wir alle. Da sind wir alle, auf der anderen Seite sie alle, und das kann nicht gut gehen. (Den verstorbenen) Danilo Kis mag ich immer noch, für Tisma habe ich mich nie erwärmen können, interessanter finde ich aber, wie verschieden diese beiden Stimmen, diese Intellektuellen sind.Auf dieses Wir, Ihr und Sie möchte ich hinaus. Und damit bin ich wieder bei der Gegenwart. Es mag auf Anhieb überzeugend klingen, wenn ungarische Autoren über ganz Ungarn als wir reden können, wenn deutsche Autoren über die serbischen Autoren sprechen und sie alle sagen, oder wenn ein Land über die Serben redet. Mit diesen Verallgemeinerungen werden deutliche Landesgrenzen gezogen. Damit beginnen die merkwürdigen Landesgruppierungen. Wir sind so, Ihr seid so. Dabei gibt es viele und immer mehr Personen, die mit solchen Begriffen nicht zu erfassen sind.Durch meinen sogenannten Lebenslauf habe ich mit ungefähr fünf Ländern zu tun und höre automatisch genauer hin, wenn von ihnen die Rede ist; ich höre sehr genau, wenn einer meiner Kollegen schreibt, daß »wir Ungarn« nicht kämpferisch seien und staune, daß er das für alle weiß. Oder wenn von Flüchtlingen die Rede ist, denke ich an Österreich: als ich geflohen war, habe ich dort viel Freundlichkeit erfahren. Bei Deutschland und der Schweiz bin ich ebenfalls aufmerksam, das hängt mit den genannten Lebenserfahrungen zusammen. Ich kann natürlich gut reden, da die Länder unter meinen Füßen seit meiner Kindheit immer wegfliegen, ich gehöre zu mehreren Ländern und zu keinem, das ist nicht immer leicht, aber solche Erfahrungen wünsche ich trotzdem auch anderen, um von diesem ewigen Wir, landesweise, wegzukommen.Ob jemand in der ersten oder in der dritten Person erzählt, hat sich in diesem Jahrhundert für die Literatur als eine entscheidende Frage erwiesen. Es gibt auch außerhalb der Literatur keinen guten Grund, auf das alte Wir und das befremdende Sie zurückzukommen.Zsuzsanna Gahse, Jahrgang 1946, geboren in Budapest, lebt als Schriftstellerin, Übersetzerin und Essayistin in der Nähe von Zürich. Zuletzt erschienen die Bücher Kellnerroman und Wie geht es dem Text? Im Herbst erscheint im Hamburger EVA-Verlag ihr neues Buch Nichts ist wie.
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