Ein ungarisch schreibender Schriftsteller muss nicht unbedingt in Ungarn schreiben. Das kann er auch in der Slowakei, in Siebenbürgen oder in der Vojvodina tun, dort leben einige ungarische Schriftsteller; aber selbst in England muss niemand (auch kein Ungar) die Sprache wechseln, wenn er sein Land freiwillig oder unfreiwillig verlassen hat.
Die Autoren, die außerhalb der ungarischen Landesgrenzen schreiben, werden auch innerhalb der Grenzen noch nicht sehr lange wirklich mitgezählt, obwohl gerade die ausgefransten Literaturgrenzen jedem Land gut tun. Immerhin wird man jetzt im Herbst von dem Siebenbürger Adam Bodor bereits den zweiten Roman auch auf deutsch kennenlernen können und damit einen dunkleren, bedrohlicheren Erzählton, als von den heutigen ungarische
ungarischen Autoren sonst bekannt ist.Bodor, 1936 in Klausenburg geboren, lebt seit mehr als zehn Jahren in Budapest, und ein anderer, der zumindest mit seinen schwerblütig klugen Gedichten bekannt sein müßte - Otto Tolnai -, lebte über fünfzig Jahre in der Vojvodina, er ist erst während der Bombardierung Serbiens nach Budapest geflohen (in einigen Anthologie-Beiträgen kann man ihn auf deutsch lesen, sonst noch nicht). Offensichtlich ist also die Anziehung von Budapest groß, und demnach dehnen sich die Landesgrenzen nicht wirklich aus. Sie könnten leider auch auf die Hauptstadt zurückversetzt werden.Aber wo auch immer jemand auf ungarisch schreibt, reicht es nicht, dass seine Werke auf ungarisch erscheinen. Erst die Übersetzung in eine Weltsprache, vor allem ins Deutsche, gibt dem Werk die wirkliche Resonanz. In diesem Jahr gilt diese Bedingung verschärft. Zur Frankfurter Buchmesse reisen nur Autoren an, von denen zumindest einige Seiten irgendwo abgedruckt sind. Anders gesagt: Autoren, die keinen Übersetzer finden, sind so gut wie nicht vorhanden, und wenn sie schlecht übersetzt werden, geht es ihnen auch nicht viel besser.Nicht repräsentative Übersetzungen sind aber ein Tabuthema, weil das Personal, das die ungarische Literatur für die deutschen Leser betreut, (immer noch) sehr beschränkt ist, notwendigerweise sind es die Übersetzer, die über Übersetzungen berichten, daher wird jede öffentliche Kritik vermieden. Solche Kritik würde manchen Autor ins richtige Licht rücken, und notwendig wäre das zum Beispiel im Fall von Dezsö Tandori.Von Tandori liegen schon drei Bände auf deutsch vor, trotzdem wird er kaum wahrgenommen. Seine sich feinfühlig vorantastenden, geistreichen Sätze holpern auf deutsch, neugierig machen sie daher keineswegs. Dabei ist Tandori gerade mit seiner zögernden Denkweise so etwas wie der Vater der jungen ungarischen Schriftstellergeneration. Der Lyriker und Romanautor lebte jahrelang mit siebzehn Spatzen (und seiner Frau) in einer Zweizimmerwohnung in Budapest und beschrieb seine kleinen Vogel-Mitbewohner; jetzt hat er sich auf Pferderennen verlegt, aber nicht um Tiergeschichten geht es ihm, sondern um Befindlichkeiten, um Überraschungen in der Alltäglichkeit. "Ich gehe dem nach, was auf mich zukommt", schreibt er. "Wichtige Dinge würde ich nicht erzählen; anscheinend gibt es nichts in meinem Leben, was wichtig wäre, denn ich erzähle alles."Anfang dieses Jahrhunderts wurde in Buda pest eine Literaturzeitschrift gegründet, die schon mit ihrem Titel Nyugat, auf deutsch der Westen, eine damals ungewöhnliche Grundhaltung verkündete. Nyugat war ein Sinnbild für den Aufbruch in Richtung Westen, um mit der französischen, der skandinavischen oder deutschen Literatur endlich in einen Dialog zu treten, und diese Aufbruchstimmung gilt letztenendes für das ganze Jahrhundert, unterbrochen wurde sie nur von außen, durch die Zeiten der Diktatur und Zensur.Um zwei wichtige Namen der Nyugat -Schriftsteller zu nennen: Endre Ady und Mihály Babits. Ady ist für eingeweihte Leser auch hier bekannt. Sein Name ist bekannt. Aber die bisherigen Übersetzungen seiner Gedichte verschleiern seine Gedanken, anstatt sie vorzustellen. Er schrieb kühle, kompakte Verszeilen, Vertracktheiten, vertrackte Satzstellungen lagen ihm fern. Seine Gedichte reimten sich - weil sich im Ungarischen die Wörter fast von selbst reimen. Wenn in den Übersetzungen die Reime im Vordergrund stehen und ihnen zuliebe verdrehte Sätze und ausgediente, müde Wörter in Kauf genommen werden, ist Ady gar nicht wirklich vorhanden.Der konzentrierte Blick auf die Sprache, also auf das Wie des zu Sagenden, ist bis heute entscheidend. Dieses Wie hat viele Möglichkeiten und sieht bei Imre Kertész anders aus als bei Péter Esterházy, bei Péter Nádas oder eben bei Tandori, und man könnte lange darüber reden, was die jeweiligen Formen bewirken und seit Jahrzehnten bewirkt haben. Sicher ging von ihnen Widerstand aus, und immerhin ist hier von einer Literatur die Rede, die sich gegen den politischen Druck von oben durchzusetzen hatte.Bisher habe ich nur Männernamen erwähnt. Dabei gab es schon im vergangenen Jahrhundert eine bedeutende Dichterin, die in ihrem autobiographischen Werk Psyche hinreißend erotische und lebenskluge Bilder entworfen hatte. Erschienen ist ihr Lebenswerk erst Anfang der siebziger Jahre, in unserem Jahrhundert, denn die Schöne und ihr schönes Buch sind eine Schöpfung des (1981 verstorbenen) wunderbaren Sándor Weöres. In den achtziger Jahren tauchte dann eine interessante Nachfolgerin auf, Lili Csokonai. Mit einer vor Erotik erstickenden Stimme schrieb sie über ihr Liebesglück und -Unglück, und von dieser sehr heutigen Liebe sprach sie in einem barock-durchsetzten Ungarisch. Die Rezensenten waren von ihrer Sprache und der ungewöhnlichen Geschichte tief beeindruckt. Dann fanden sie heraus, dass der Vater der Dame der listenreiche Péter Esterházy war. Genauer gesagt: er hatte das Buch geschrieben. (Lili Csokonai ist sozusagen aus Kostengründen noch nicht übersetzt, das gilt auch für Psyche.)Das sind zwei abstrakte Frauen, die schreiben. Konkret sieht es nicht so gut aus. Frauen, die Prosaliteratur schreiben und durch einen eigenen Ton, durch eine eigene Erzählperspektive - durch das Wie - wiedererkennbar wären, wird man nicht wirklich finden. Sie verstecken sich, oder sie werden versteckt! Vielleicht haben sie Angst vor den Kollegen. Prosa schreiben sie kaum, Gedichte eher.Die Frauen sind Lyrikerinnen, und die ungarische Prosaliteratur zeigt ein Gruppenbild von Herren. Dieses Bild ist bei uns weitgehend bekannt. György Konrád, Péter Esterházy, Péter Nádas und Imre Kertész - so die zeitliche Reihenfolge ihrer Bekanntheit für westliche Leser - liegen in diesem Herbst fast mit ihrem Gesamtwerk auf deutsch vor. Auch von György Dalos und István Eörsi kommen im Herbst mehrere Bücher hinzu.Trotz der Intensivierung durch die Frankfurter Buchmesse sind allerdings einige Hintergrundinformationen nötig. Bekannt ist zum Beispiel die ausgefeilte Erzählweise von Péter Nádas, sein insistierendes Heranrücken an alle einmal angesprochenen Motive. Zu seiner Erzählhaltung, die jeweils möglichst viele Argumente bündeln will, gehören seine langen oft seitenlangen Sätze - die den deutschen Leser wohl an Thomas Mann erinnern und nicht weiter kümmern. Im Ungarischen musste Nádas diese Sätze erst "erfinden". Die Sprache war auf solche Komplikationen, auf dieses vielschichtige Denken, nicht vorbereitet.Die jüngeren Endre Kukorelly und László Garaczi gehen mit ihrem lässigen Parlando einen entgegengesetzten Weg. Ihre hingeworfenen Halbsätze spiegeln eine Gegenwart der hingeworfenen oft unvollständigen Sätze, die unser analytisches Deutsch kaum nachvollziehen kann.László Krasznahorkai ist einer der ersten Autoren, die Budapest den Rücken zugekehrt haben. Anfang des Jahrhunderts hieß es, der Bürger sei endlich erwachsen. Jener Bürger des Aufbruchs schaute sich in der Hauptstadt, in Budapest um. Dabei blieb es für die folgenden Jahrzehnte, und diese Konzentration war in den fünfziger bis siebziger Jahren alle Arten der Kontrolle sehr willkommen. Als László Krasznahorkai zu schreiben begann, hatte sich die Zensur gelockert, und er machte sich auf die Suche nach Motiven in der Provinz, in den unentdeckten Winkeln des Landes. Inzwischen ist er bereits weiter, sein neuestes Buch spielt in New York.Die Ungarn, einst als Nomaden ins Karpathenbecken gezogen, wandern wieder, sind viel im Ausland, das sieht man auch der Literatur an. Berlin zum Beispiel spielt eine wichtige Rolle. Die Berlinerfahrungen sind in die Werke von Péter Esterházy und Péter Nádas förmlich eingesickert.Miklós Mészöly war bereits Anfang der siebziger Jahre Gast des DAAD in Berlin. Damals schon erschienen seine Romane auf deutsch. Das war zu früh. Damals gab es kaum Interesse für die ungarische Literatur, daher blieb in seiner Erzählung Landkarte mit Rissen (1976) und in seinem Hauptwerk Rückblenden (198 ), das Neue unentdeckt: das Erzählen durch Zuschauen. Mit Rückblenden (der Roman erscheint im Herbst wieder) zeigt sich diese Erzählperspektive besonders deutlich: Ein Kamerateam begleitet ein altes Ehepaar auf dem mühsam Heimweg, und durch die sehr genauen Beobachtungen des Teams wird nicht nur die Lebensgeschichte der alten Leute, sondern auch die Geschichte ihrer Umgebung sichtbar. So eine betrachtende Erzählweise kann auf psychologische Mutmaßungen verzichten.Auch Mészöly gehört zu den Vaterfiguren der Gegenwartsliteratur. Lange könnte man über seine politische Unbestechlichkeit reden. Und man könnte seine literarischen Vorbilder aufzählen, die natürlich nichts mit den ungarischen Landesgrenzen zu tun haben.Die Ungarn befinden sich nicht nur in Ungarn, und die Autoren holen ihre Anregungen von überall her. Bei Péter Esterházy gibt es beispielsweise ein Motiv, einige wenige Zeilen über den nächtlichen Himmel. Wie kleine Intarsie tauchen sie in seinen Novellen wiederholt auf. Sie stammen ursprünglich aus Camus' Die Pest. Da sprechen zwei Autoren miteinander, eine Unterhaltung, innerhalb der Weltliteratur.
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