In Kooperation mit Wilhelm Busch – Deutsches Museum für Karikatur und Zeichenkunst

Die Wiederkehr des Unbestimmten

Martin Koch über „Max und Moritz“: Warum Wilhelm Buschs amoralische Lausbuben trotz Brutalität zum Bestseller wurden – und was sie über zerfallende Ordnungen verraten. Ein Essay über die erstaunliche Aktualität des Klassikers

„Max und Moritz“ (Vierter Streich, Blatt 5, 2. Bild) von Wilhelm Busch (1863)

Foto: Museum Wilhelm Busch

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Wilhelm Busch und seine bösen Buben

Georgengarten 1 | 30167 Hannover

Noch bis 8. Februar 2026!

Lesende, die sich nach einer ritualisierten Kindheitslektüre noch einmal mit Max und Moritz befassen, werden zunächst überrascht sein von der Brutalität dieses Werkes: Die beiden Hauptdarsteller begehen jedenfalls zwei Mordversuche, einen an Lehrer Lämpel und einen an dem Schneider und Nichtschwimmer Böck, und werden am Ende selbst erst versuchsweise und dann erfolgreich bestialisch getötet. Dabei wird deutlich, was die Geschichte von den Klassikern der Kinder- und Jugendliteratur der Nachkriegszeit unterscheidet: Denn Pippi Langstrumpf, Jim Knopf oder Kasperl und Seppel treten als bessere Erwachsene auf, die dem Versagen hilfloser Autoritäten mit eigenen Entwürfen von Moral und Vernunft begegnen. Max und Moritz dagegen handeln vollkommen amoralisch. Sie berauben die Witwe Bolte, quälen Tiere und vergehen sich an Dorfbewohner:innen, die ihnen scheinbar nicht das Geringste getan haben. Doch am Ende handeln auch diese vermeintlich Leidtragenden nicht anders. Während im Struwwelpeter, dem zweiten Kinderbuchklassiker des 19. Jahrhunderts, noch eine schwarze Pädagogik der erzieherischen Bestrafung kindlicher Normverletzungen vorherrscht, werden hier die Erwachsenen selbst als gleichermaßen lächerlich und sadistisch vorgeführt.

Max und Moritz enthält also überhaupt keine pädagogische Moral. Wie konnte es trotzdem ein solcher Bestseller werden? Um die Wirkung, öffentliche Funktion und kulturelle Bedeutung von Kunst zu erfassen, bedarf es stets einer doppelten Betrachtung: einerseits die der Motive der jeweiligen Urheber:innen, andererseits die der jeweils zeitgenössischen Rezeption durch Lesende oder Zuhörende. Letzteres ist im Falle der Kinder- und Jugendliteratur allerdings mit einer Besonderheit verbunden, denn diese Bücher, die ja von Erwachsenen – meist wohl den Eltern – angeschafft und vorgelesen werden, übertreten oft die Moral, nach der genau diese Erwachsenen erziehen und handeln. Wie sonst hätten Jim Knopf als ein Gegenentwurf zu kolonialer Ausbeutung und eine anarchistische Figur wie Pippi Langstrumpf auch in der »bleiernen Zeit« der deutschen Nachkriegsgesellschaft derart Erfolg haben können? Vermutlich werden auch Erwachsene bei der Lektüre selbst wieder zu Kindern und verbünden sich mit den Darsteller:innen gegen die von ihnen selbst repräsentierte Moral.

Historische Hintergründe

Was sind also die historischen Hintergründe von Max und Moritz? Der Autor wird 1832 im Fürstentum Schaumburg-Lippe geboren und wächst im Dorf Wiedensahl, später in Ebergötzen nahe dem Eichsfeld auf. Hier erlebt er die ausgehende Biedermeierzeit und beginnt dann eine wechselhafte Studien- und Ausbildungszeit in Hannover, Düsseldorf, Antwerpen und München. In Hannover erlebt er die Schockwellen der Revolution von 1848 und wird zu deren Bekämpfung eingeteilt. Mit nunmehr weltläufigem Blick kehrt er in die dörflichen Lebenswelten zurück und blickt auf die Absurdität einer seit Langem zerfallenden Ordnung: Die Ablösungen, Teilungen und Verkopplungen, mit denen die feudalen Abhängigkeiten der Pacht- und Zehntzahlungen gekappt und zuvor in genossenschaftlicher Nutzung befindliche Böden in Privateigentum umgewandelt wurden, sind in Nordwest-deutschland bereits seit der Mitte des 19. Jahrhunderts nahezu abgeschlossen. Dieser Prozess, den Werner Sombart als »große Plünderung« bezeichnete, beraubt gerade landlose und kleinbäuerliche Gruppen einer entscheidenden Existenzgrundlage, indem man ihnen öffentliche Weideflächen entzieht. Gleichzeitig ereignet sich gerade in Nordwestdeutschland ein ungeheures Bevölkerungswachstum.4 Sprunghaft wächst mit der Protoindustrialisierung eine neue Schicht freier, zugleich aber auch verarmter Akteure und Akteurinnen, die in die kulturellen und ökonomischen Institutionen der zerfallen- den feudalen Landwirtschaft kaum mehr eingebunden werden können. Noch steckt die Industrialisierung des damals rückständigen Deutschlands in ihren Kinderschuhen. Der demografische Druck des Bevölkerungs- wachstums kann sich noch nicht in die industriellen Zen- tren entladen. Und doch sind die ständische Moral und mit ihr die dörflichen Autoritäten bereits schwer beschädigt. Zwar ist die Bestandsaufnahme des Kommunistischen Manifests, die »buntscheckigen Feudalbande, die den Menschen an seinen natürlichen Vorgesetzten knüpften, [seien] unbarmherzig zerrissen, und [hätten] kein anderes Band zwischen Mensch und Mensch übrig gelassen, als das nackte Interesse, als die gefühllose ›bare Zahlung‹«5 1848 noch weit übertrieben. Trotzdem erodiert das Gefüge der ländlichen Kommunen. Macht lässt sich immer weniger sittlich legitimieren und reduziert sich zunehmend auf eine rein ökonomische Differenzierung. Auch wenn Busch und sein Freund, der Müllersohn Erich Bachmann, als vermutlich inspirierende Vorlagen von Max und Moritz nicht zum Kreis der landlosen Unter- schichten gehörten, so bringen ihre Streiche doch auch die kulturelle und materielle Zersetzung der feudalen Ordnung zum Ausdruck. Sie arbeiten sich von Streich zu Streich in der dörflichen Hierarchie nach oben: Sie beginnen bei einer Witwe, arbeiten sich dann an dem Schneider als einem der untersten Repräsentanten des Landhandwerks ab, vergehen sich danach an dem Lehrer, der seinerzeit als Kostgänger ebenfalls wenig privilegiert ist, ärgern darauf ihren Onkel mit Bett und eigenem Zimmer und scheitern schließlich an den wohlhabendsten Akteuren des Dorfes: dem Bäcker, dem nach Meierrecht wohlbegütertem Bauern und schließlich dem Müller. Deren brutale Reaktion hat dann keinerlei erzieherische Funktion mehr: Sie bringen die beiden Lausbuben um, was von allen Dorfbewohnern völlig gleichgültig als eine Form ausgleichender Gerechtigkeit quittiert wird. Daneben tritt aber noch ein zentrales Motiv in vier der sieben Streiche hervor: Max und Moritz stehlen Essbares. Sie töten, stehlen und verzehren die Hühner der Witwe Bolte und trachten nach dem Brot des Bauern und des Bäckers. All dies findet statt im Kontext der Not der unter- bäuerlichen Gruppen, deren Lebensunterhaltung und Ernährung ebenfalls kaum mehr sichergestellt werden können.

Mit Blick auf die Lesenden dieser Bildergeschichte muss zunächst ein Zeitsprung beachtet werden. Das Werk erscheint 1865, als der »Take-off« der nachholenden deutschen Industrialisierung Fahrt aufzunehmen beginnt. Parallel zu der zunächst langsamen, dann aber rasanten Verbreitung des Buches ergeben sich in urbanen und kleinstädtischen Zentren Beschäftigungsalternativen. Doch diese neuartigen Arbeits- und Lebensweisen sind kulturell noch unstrukturiert. Die taktgebende Uhr, pre­ käres Wohnen in Mietskasernen, das Lohnarbeitsverhältnis oder der Ausfall der dörflichen Sozialfürsorge scheinen mit dem sozialen Leben auch zunehmend die Subjekte selbst zu defragmentieren. 1865 entdeckt Gilles de la Tourette die sprunghafte Ausbreitung des nach ihm benannten Syndroms eines Kontrollverlusts über die körperliche Motorik.6 Wenig später beschreibt Émile Durkheim die Verbreitung von Anomie als einen ausufernden Zustand sozialer Desintegration.7 Damit fällt der bahnbrechende Erfolg von Max und Moritz in eine Epoche kultureller Zersetzung, deren institutionalisierter Fortgang unwägbar sein muss. Was sie mit ihren Streichen bezwecken, muss für Lesende jener Zeit jedenfalls unbestimmt sein. Die beiden erscheinen gleich ihren strafenden Opfern als moralisch und asozial. Ob sich darin eine neue Form sozialer Sinnhaftigkeit vorwegnimmt, kann zu dem damaligen Zeitpunkt kaum benannt werden. Und es ist wohl allein die Degradierung überkommender Autoritäten, die Kinder und Erwachsenen Freude bereitet.

Max und Moritz 2025

Bekanntlich hatte die soziale Welt seitdem nach den katastrophischen Einschnitten des Faschismus und zweier Weltkriege zu einer neuen Formation sozialer Ordnung gefunden: Die Verbreitung von Parteien, Vereinen, Gewerkschaften, Sozialversicherungen, wachsender Wohlstand, kollektiv konsumierte Nachrichten- und Unterhaltungsmedien sowie bindende politische Programmatiken haben mit den sozialen Milieus lange Zeit eine neue Form institutionalisierter Verhaltens­ normierungen erzeugt.

Nun aber, 160 Jahre nach dem Erscheinen von Max und Moritz, befindet sich die soziale Welt erneut in einem Zustand fortschreitender Auflösung, der seiner völligen Andersartigkeit zum Trotz doch mit der damaligen Welt vergleichbar erscheint. Der Zerfall bindender Ideologien, der dramatische Mitgliederverlust von Parteien, Gewerkschaften, Kirchen und sozialen Vereinen, die Defragmentierung von Lebensläufen, eine grotesk polarisierte Reichtumsverteilung oder die Verlagerung von Lebenswelten in die Flatterhaftigkeit entbundener Digitalität haben zur Auflösung sozialer, zeitlicher und räumlicher Kontexte geführt. Schon in den 1980er-Jahren wurde die »Kultur der Postmoderne« daher als ein »Zerreißen der Signifikantenkette« diagnostiziert, mit dem auch das subjektive Welterleben von allen Bindungen freigesetzt wird. Die Lektüre von Max und Moritz fällt damit 2025 ein weiteres Mal in den Moment einer zerfallenden Ordnung, in dem nicht absehbar ist, ob und was einmal an ihre Stelle treten wird. Damit kehren die beiden Protagonisten in eine Zone der Unbestimmtheit zurück, die der ihrer originären Entstehung trotz aller Andersartigkeit gleicht. Was gerade junge Menschen heute in ihnen lesen, mag abseits verbrämter Kindheitsnostalgie doch vielleicht Aufschluss über die Gestalt einer kommenden kulturellen Epoche geben, die allen drohenden Katastrophen zum Trotz womöglich jetzt schon entsteht.

Von Martin Koch

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