I. Sündenspiegel: Krise in Kirche, Gesellschaft und Moral
Sündenspiegel sind spätmittelalterliche Texte, die sündiges Verhalten vor Augen führen und zu Umkehr, zu einem vorbildhaften, gottgefälligen Leben mahnen. Der „Spiegel“ dient dabei als Metapher, um Missstände aufzuzeigen und ex negativo die Vision einer besseren Welt zu entwerfen. Er reflektiert dabei vor allem die abschreckenden, verwerflichen Seiten, die es zu überwinden gilt, während das tugendhafte Vorbild eher selten oder gar nicht dargestellt wird. Nicht Vorstellungen von Seligkeit oder dem Paradies lassen diese als hoffnungsvolles Ideal erscheinen, sondern die Furcht vor ewiger Verdammnis, die Angst vor Strafe und Gericht. Ein Speculum paccatoris reflektiert daher nicht nur zeitgenössische Wirklichkeit, sondern zielt auf Erkenntnis dessen, was sein sollte, aber nicht ist: eine Welt frei von Sünde und Verdorbenheit. Die vielfältigen Krisenerscheinungen in Kirche, Gesellschaft und Moral, die sich am Ausgang des Spätmittelalters offenbarten, befördert von Glaubensstreit, Ständekonflikten, Kriegen, Seuchen und Katastrophen aller Art, verursachten Unruhe, Elend und Aufruhr, verbunden mit gesteigerten Heilserwartungen, Wunderglauben und Prophezeiungen von einem nahen Ende, das auch Gerechtigkeit verheißt.
II. Frӳheit: Aufruhr, Endzeit und Entscheidungsschlacht
Zwei der wichtigsten Reformationsschriften Martin Luthers aus dem Jahr 1520 handeln von der babylonischen Gefangenschaft der Kirche und von der Freiheit eines Christenmenschen, der sowohl ein freier Herr und niemandem als auch ein dienstbarer Knecht und jedermann untertan sei. Gegner sahen darin Auffassungen, die nur Ungehorsam, Aufruhr und Empörung zur Folge hätten. Der Franziskaner Thomas Murner, erst auf der Seite der Reformation, dann einer ihrer schärfsten Kritiker, behauptete in einer seiner besten literarischen Satiren, dass die Lutherischen den Altgläubigen gar das Banner der christlichen Freiheit gestohlen hätten und ihre Anhänger nur gottlose, lasterhafte Narren seien. Die Verknüpfung der Reformation mit der aufrührerischen Empörung des gemeinen Mannes fügt sich als Moralsatire in einen endzeitlichen Rahmen, der die geistigen Vorstellungen im Spätmittelalter und der frühen Neuzeit grundlegend geprägt hat. Der Kampf des gemeinen Mannes im Zeichen des neuen Evangeliums spiegelt sich sinnbildlich in Motiven der Passion. Thomas Müntzers gerichtsprophetische Scheidung der Gottlosen von den Erwählten steht im Geist der Apokalypse. Seine Überzeugung, dass die Endzeit gekommen sei, bestimmte sein Handeln, gab dem Aufstand des vermeinten Gottesvolkes heilsgeschichtliche Qualität, erhob ihn zu einer eschatologischen Schlacht.
III. Zu ewiger gedechtnus: Leitbilder der Neuzeit
Der Anbruch der Neuzeit wird von der Entwicklung eines neuen Welt- und Menschenbildes geprägt, das in kritischer Auseinandersetzung mit der mittelalterlichen Scholastik und antiker Tradition in den geistig-kulturellen Strömungen des von Italien vermittelten Humanismus und der Renaissance wie in den Leistungen der Reformation sichtbar Niederschlag fand. Der breiten Entfaltung des Individuums entsprach die Emanzipation eines Bürgertums, das Handel und Banken kontrollierte und entschieden mehr Mitsprache verlangte. Große Entdeckungen und Erfindungen wie der Buchdruck mit beweglichen Lettern weiteten den Horizont. Unter dem Einfluss des Humanismus waren es vor allem aber die Künstler, die mit ihren Werken zur Formulierung dieses neuen Welt- und Menschenbildes beitrugen, sodass „Dürerzeit“ zu einem Begriff für die gesamte Epoche wurde. Wie der Kaiser schon zu Lebzeiten bedeutende Kunst bei den größten Meistern seiner Zeit in Auftrag gegeben hatte, um die Erinnerung an sein Leben und Wirken gezielt zu steuern und zu erhalten, haben sich Maler, Grafiker und Bildhauer dem Bild ihrer Zeitgenossen wie ihrer selbst zugewandt. Das Antlitz der Epoche tritt nirgendwo sonst so klar vor Augen wie in den Protagonisten dieser Zeitenwende, die sich mit ihrem Schaffen auf immer in das Gedächtnis der Menschheit eingeschrieben haben.
IV. Gerechtigkeyt: Ständeleben, Recht und Gericht
Die Gesellschaft der frühen Neuzeit war in drei Stände gegliedert: Klerus, Adel sowie Bürger, Patriziat, Kaufleute und Handwerkerschaft einschließlich freier Bauern auf dem Land. Der erste Stand hatte für das Seelenheil zu sorgen, der zweite gegen Feinde zu schützen und der dritte die Gesamtheit zu ernähren. Die Hauptlast der als gottgewollt geltenden Ordnung trug der Bauer, der gemeine Mann. Daher zielten dessen Beschwerden, zusammengefasst in Zwölf Artikeln, die Anfang 1525 rasch zu hoher Verbreitung kamen, auf eine Besserung ihrer Lage im Blick auf Frondienste und Abgabenlast, die Beschwernisse der Leib- und Grundherrschaft, das Nutzungsrecht an Wald und Allmende, dazu auf kirchliche Forderungen, das Recht zur Pfarrerwahl und die Predigt des wahren Evangeliums. Auch eine feste Gerichtsordnung, die Willkür und Belieben der Strafe unterband, gehörte zu ihrem Forderungskatalog. Die Berufung auf das Evangelium gab den Forderungen der Bauern ein vermeintlich von der Reformation gestütztes Fundament. Luther aber wandte sich aus Sorge um die gottgefügte Ordnung entschieden wider die räuberischen und mörderischen Rotten der Bauern, die sich auf ihn berufen hatten. Der Aufstand scheiterte, der Versuch zur Besserung misslang. Was blieb, war die Hoffnung auf göttliche Gerechtigkeit am Tage des Jüngsten Gerichts, wie die Offenbarung verheißt.
V. Widerstreyt: Beschwerung, Strafe und Verkündigung
Vor dem Hintergrund verbreiteter Missstände, Sittenlosigkeit und Verfall offenbaren sich in Luthers Reformation und Müntzers Eschatologie zwei aus grundlegender Kritik an der Praxis der Kirche erwachsene Strömungen des Glaubens, die anfänglich durchaus Berührungspunkte hatten, sich bald jedoch schieden und schließlich in unversöhnlichen Widerstreit gerieten. Luthers Schriftglaube, seine Rechtfertigungs- und seine Zwei-Reiche-Lehre erwiesen sich als unvereinbar mit Müntzers Geistglauben, der Einflüssen spätmittelalterlicher Mystik wie dem Gedanken der Leidensnachfolge Christ verpflichtet war. Hinzu kamen Müntzers ausgeprägtes Sendungsbewusstsein und seine Überzeugung, dass das Ende der Zeit angebrochen, die Ständeordnung aufgehoben und das Volk der Auserwählten zur Vernichtung der Gottlosen berufen sei. Während der Glaubenskampf des Reformators unter dem Schutz des Kurfürsten zu einer Erneuerung der Kirche führte, erlitt der „Theologe des Gerichts“ im Versuch, die obrigkeitliche Ordnung der Sünde zu stürzen und eine Herrschaft des Gottesvolkes auf Erden zu errichten, sein Schicksal in der Zeit, wie es seine Gegner ihm zugedacht hatten.
VI. Erkantnuß: Historie, Mensch und Welt
Der philosophisch-theologische Diskurs im Zeitalter der Reformation und des Renaissance-Humanismus war von universaler Dimension. In ihm verschmolzen religiöse Vorstellungen des lateinischen Mittelalters mit antiken Bezügen, die in ihm überdauert oder neu vermittelt wurden. Die zyklische Zeitvorstellung der Antike, die in Monatsbildern, Jahreszeitmotiven, auch Planetenbildern, Tierkreiszeichen und Lebensaltern lebendig war und der Idee einer Wiederkehr entsprach, traf auf ein christliches Zeitkonzept, das prinzipiell linear, da auf die Endzeit ausgerichtet war. Der ewige Kreislauf gewann damit unversehens einen Anfang und ein Ende, ein Widerspruch, der im Denken der frühen Neuzeit ungelöst bestehen konnte und in der Bildallegorik durchaus verbreitet war. Die Geschichte der Menschheit, eingebettet zwischen Genesis und Apokalypse, beginnt mit dem Sündenfall und endet mit den letzten Dingen, mit Tod und Gericht. Dabei verschränkt sich dieses Weltbild, geht es um Fragen der Moral, mit heilsgeschichtlichen Vorstellungen, der Idee der Bewährung des Menschen in irdischer Mühsal und der Hoffnung auf Erlösung, wenn nicht im irdischen Dasein, so doch im Jenseits. »Der Welt Lauf« meint hier nicht die Ordnung der Natur, sondern die Wechselfälle der Existenz (vergleichbar dem Glücksrad mit seinem steten Wechsel von Auf und Ab), die auf Erfahrung basierende und daher absehbare, ja unabwendbar erscheinende Entwicklung allen Geschehens, aller Geschichte.