Eine Konzeptkünstlerin an der Schreibmaschine

Kommentar Marie Gerbaulet und Paola Malavassi sind die Kuratorinnen der Retrospektive Ruth Wolf-Rehfeldts. Wolf-Rehfeldt, Künstlerin, deren Werk so unbeschwert und voller Freiheitsdrang daher kommt, scheint aus heutiger Perspektive ungemein fortschrittlich
Ruth Wolf-Rehfeldt, „Concrete Shoe“, o. J.. Mail-Art-Archiv Thomas Schulz, Potsdam
Ruth Wolf-Rehfeldt, „Concrete Shoe“, o. J.. Mail-Art-Archiv Thomas Schulz, Potsdam

Foto: Courtesy of the artist and ChertLüdde, Berlin

Schon als Jugendliche brachte sich Wolf-Rehfeldt selbst das Maschineschreiben bei, bevor sie 1947 eine Lehre als Industriekauffrau begann. Anschließend zog sie in den frühen 1950er-Jahren nach Berlin, um an der Arbeiter-und-Bauern-Fakultät (ABF) der Humboldt-Universität Berlin ihr Abitur zu machen und dort ein Jahr lang Philosophie zu studieren. Wenige Jahre später bekam sie eine Stelle in der Ausstellungsabteilung der Akademie der Künste in Berlin als Büromitarbeiterin. In Berlin lernte sie ihren zukünftigen Mann Robert Rehfeldt kennen, der später die ersten Kontakte zum Netzwerk der Mail Art erschloss, an dem sich Wolf-Rehfeldt ab 1974 intensiv beteiligte.

Bereits in den frühen 1960er-Jahren schrieb Wolf-Rehfeldt erste Gedichte und schuf als Autodidaktin Pastelle, Zeichnungen und Gemälde. Doch die Malerei allein erfüllte sie nicht auf Dauer. Anders ging es ihr mit der Sprache. Ruth Wolf-Rehfeldts Schreibmaschinengrafiken, die sie selbst »Typewritings« nannte, ging eine langjährige und intensive Auseinandersetzung mit Bild, Schrift und Sprache voraus.

Für ein Symposium zum Thema Sprache in Breslau (Wrocław) im Jahr 1972 nutzte Wolf-Rehfeldt erstmalig ihre Erika-Schreibmaschine als künstlerisches Produktionsmittel. Im selben Jahr entstanden ihre ersten Typewritings. Wolf-Rehfeldt experimentierte mit der Bildwerdung von Sprache und legte so den Grundstein für ihre konkrete Poesie. In einem Manuskript mit dem Titel Signs Fiction erklärte die Künstlerin, wie bereits vorhandene Zeichen für sie zu Bausteinen von fiktiven Zeichen (also Signs Fiction) wurden, indem sie den Wörtern und alphabetischen Symbolen neue Bedeutung verlieh. Die Eigenschaften des Alphabets wurden zum Material ihrer visuellen Kompositionen.[1] So verwendete Wolf-Rehfeldt sprachliche Zeichen jenseits ihrer linguistischen Bedeutung und entwickelte in ihren Typewritings nach und nach eine eigenständige Formsprache.

In Formaten meist zwischen DIN A6 und A4 entstanden Originale und Kohledurchschläge. Ihre Aufnahme als Mitglied im Verbund der Bildenden Künste Verband Bildender Künstler der DDR im Jahr 1978 erlaubte ihr, eine begrenzte Anzahl an »Kleingrafiken« anzufertigen und somit ihre Werke zu vervielfältigen. In der Folge produzierte sie zinkografische Kopien der Motive, immer klein genug, um sie per Post an ihr Mail-Art-Netzwerk versenden zu können. Diesen fügte sie selbst gestaltete Stempel und Briefmarken hinzu. Die Zinkografien bildeten häufig den Ausgangspunkt für Wolf-Rehfeldts Collagen, die in den 1980er-Jahren entstanden. Diese enthielten zufällig entdeckte Elemente aus Magazinen, Büchern, eigene Typewritings oder Fotokopien von früheren Gemälden.

Durch den Postversand ihrer Kunstwerke spannte die Künstlerin ein weites, internationales Netz an künstlerischem Austausch, weit über die Grenzen des geschlossenen Systems der ehemaligen DDR hinaus: »Das Leben in der DDR konnte ja manchmal einschränkend sein, aber durch die Mail Art hatte man das Gefühl etwas weiter denken und blicken zu können und auch etwas weiter an die Grenzen gehen zu können«, so erinnert sich Ruth Wolf-Rehfeldt.[2] Sie und ihr Partner Robert Rehfeldt waren in der DDR Pioniere dieser Form des künstlerischen Austauschs, die eine unzensierte Zirkulation von Kunst und Ideen ermöglichte. Ruth Wolf-Rehfeldts Werk ist unbeschwert und voller Freiheitsdrang – subtil, humorvoll, virtuos und durchdrungen von visuellen Form- und Wortspielen. Nach dem Fall der Berliner Mauer und dem Tod ihres Lebensgefährten stellte Wolf-Rehfeldt ihr künstlerisches Schaffen vollständig ein, da sie die Funktion der Kunstproduktion und -verbreitung durch die neu gewonnene Freiheit grundlegend verändert sah. In den letzten Jahren ist das Interesse an ihrem Werk wieder gestiegen; zuletzt wurde sie 2021 mit dem Gerhard-Altenbourg-Preis und 2022 mit dem Hannah-Höch-Preis ausgezeichnet.

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[1] Vgl. Zanna Gilbert, »Dear Ruth«, in: Ruth Wolf-Rehfeldt. Signs Fiction, hrsg. von Jennifer Chert, Berlin 2015, S. 17–33, hier S. 27

[2] Ruth Wolf-Rehfeldt in einem Interview: Kathleen Reinhardt, »Tue Gutes und wirf es ins Meer: Interview mit Ruth Wolf-Rehfeldt«, in: Für Ruth: Der Himmel in Los Angeles / For Ruth: The Sky in Los Angeles: Ruth Wolf-Rehfeldt, David Horvitz, hrsg. von Hilke Wagner und Kathleen Reinhardt, Ausst.-Kat. Staatliche Kunstsammlungen Dresden, The Wende Museum, Los Angeles, Leipzig 2021, S. 100–116, hier S. 100.

08.03.2023, 14:12

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