Unheilbare Wunden

Leseprobe Der „Krieg gegen den Terror“ in Afghanistan ist zum längsten Krieg der USA und ihrer Verbündeten geworden und hat tausende Tote und Verletze gefordert. Der freie Journalist und Autor Emran Feroz mit einer Beschreibung diesen „neokolonialen“ Kreuzzugs
Ein Ballonverkäufer geht am 31. August 2021 durch eine Straße in Kabul, Afghanistan.
Ein Ballonverkäufer geht am 31. August 2021 durch eine Straße in Kabul, Afghanistan.

Foto: HOSHANG HASHIMI/AFP via Getty Images

Wie der „Kreuzzug“ begnann

Der Pate des Dschihad

Im Juli 2001 saß Waheed Mozhdah in seinem verstaubten, spärlich eingerichteten Büro im Kabuler Außenministerium als er Besuch bekam. Mehrere junge Männer wollten ihn sehen und mit ihm Tee trinken. Im Grunde genommen war dies nichts Ungewöhnliches. Weite Teile Afghanistans wurde zum damaligen Zeitpunkt von den puritanischen Taliban regiert, doch Mozhdah empfing selbst in diesen Tagen Besuch von den verschiedensten Menschen, teils aus aller Herren Länder. Unter ihnen befanden sich meist Journalisten, Forscher und anderweitige Afghanistan-Enthusiasten. Die Taliban-Herrschaft in Kabul hatte bereits ihr fünftes Jahr erreicht. Sie war das vorläufige Endresultat einer langen Kette von Ereignissen. Im Jahr 1992 wurde das letzte kommunistische Regime Kabuls, angeführt von Mohammad Najibullah, von den Mudschaheddin-Rebellen gestürzt. Najibullah konnte sich drei Jahre lang nach Abzug der sowjetischen Truppen an der Macht halten, vor allem dank massiver Finanzspritzen und der Instandhaltung des Kabuler Militärapparats, der zuvor jahrelang von Moskau aufgebaut wurde. Die Folgen der Perestroika waren letzten Endes allerdings auch in Afghanistan spürbar, und Kabul fiel an die Rebellen. Najibullahs Machtapparat war diktatorischer Natur. Der Präsident agierte einst als Folterchef des berühmt-berüchtigten Kabuler Geheimdienstes KhAD (Persisch für „Khidamat-e Ittilaat-e Dawlati“, zu Deutsch „Staatlicher Nachrichtendienst“) der vom KGB aufgebaut wurde. Letzten Endes konnte Najibullah, ähnlich wie seine Vorgänger, nur mit Moskaus Gnaden herrschen. Dennoch herrschte in Kabul sowie in anderen urbanen Zentren des Landes ein gewisses Maß an Sicherheit. Viele Bürger, darunter auch jene, die insgeheim mit den Rebellen verbrüdert waren, dachten womöglich sogar, dass der Status quo besser war als jener in den Jahren zuvor. Najibullah war der letzte von insgesamt vier kommunistischen Regierungschefs, die in Kabul regierten. Viele Afghanen in der Hauptstadt verspürten ein gewisses Maß an Zufriedenheit, das allerdings in wirtschaftlicher Hinsicht an einem immer dünner werdenden, russischen Faden hing. Zeitgleich wurde in vielen ländlichen Regionen des Landes der Krieg brutal weitergeführt. Najibullah konnte sich vor den Massen als patriotischer, friedensliebender Mann präsentierten, doch innerhalb weniger Sekunden konnte er auch schnell wieder zu jenem Folterchef werden, der einst seine Gefangenen folterte oder zu Tode trat. Diese Eigenschaft schätzten viele seiner Weggefährten und Parteigenossen. Sie hat allerdings wohl auch dazu geführt, dass Najibullahs Feinde, sprich, die Mudschaheddin, die letzten Endes Kabul einnahmen, während der letzten Phase seiner Amtszeit seine Friedensgebärden und Aufrufe zu einer „nationalen Versöhnung“ nicht abkaufen wollten.

Nachdem die Mudschaheddin Kabul eroberten, kehrte Mozhdah in die Hauptstadt zurück. In den 1970er-Jahren studierte Mozhdah an der Kabuler Universität Wirtschaft und fokussierte sich vor allem auf das Wirken von Abdul Majid Zabuli, dem „Vater des afghanischen Kapitalismus“. Zum damaligen Zeitpunkt herrschte kein Krieg in Afghanistan, doch vieles lief falsch. Das Land hatte sich dank einiger Reformschritte des Königs, Mohammad Zahir Shah, zu einer parlamentarischen Monarchie entwickelt. In den 1960er-Jahren fanden erstmals Wahlen statt und vom Volk gewählte Abgeordnete lieferten sich verbale Schlachten im afghanischen Parlament. Die politische Landschaft war geprägt von Monarchisten, republikanischen Nationalisten, jungen, sozialdemokratischen Bewegungen, Kommunisten, traditionell-konservativen Kräften und Islamisten verschiedenster Couleur. Gleichzeitig herrschten massive Armut und Hungersnöte, während die Kabuler Bourgeoisie in einer Art Parallelwelt lebte. Besonders prägend waren in diesen Jahren vor allem Islamisten und Kommunisten, die sich an der Universität und anderswo nicht nur mit Worten bekriegten. Immer wieder kam es auch zu gewalttätigen Auseinandersetzungen, und wie viele andere Studenten beobachtete Mozhdah das Geschehen mit Sorge. Im Jahr 1973 führte Mohammad Daoud Khan, der Vetter des Königs, einen friedlichen Putsch durch, während der Monarch in Italien Urlaub machte. Die Monarchie wurde abgeschafft und Daoud rief die erste afghanische Republik aus. Gleichzeitig ging er ein Bündnis mit den afghanischen Kommunisten ein und näherte sich der Sowjetunion an. Die Situation verschlechterte sich im Laufe der darauffolgenden Jahre. Daoud ging sowohl gegen die verbündeten Kommunisten als auch gegen islamistische Kräfte vor, während er auf der internationalen Bühne weiterhin auf Afghanistans Souveränität pochte und dadurch während eines Treffens vor allem Leonid Breschnew entzürnte. Nachdem dieser Daoud diktieren wollte, wie er seine nördliche Grenze an der Sowjetunion zu bewachen habe, brach der afghanische Präsident, verletzt in seinem Stolz, das Gespräch abrupt ab und verließ die Sitzung. Dadurch hatte er womöglich sein Todesurteil unterzeichnet. Im April 1978 putschen die afghanischen Kommunisten und ermordeten Daoud mitsamt seiner Familie. Im darauffolgenden Jahr marschierte die Rote Armee ins Land ein.

Bereits kurz nach dem Einmarsch der sowjetischen Truppen im Dezember 1979 griff Mozhdah, ähnlich wie Zehntausende weitere Afghanen, zu den Waffen und schloss sich dem Widerstand an. Während des Dschihad, des bewaffneten, muslimischen Kampfes gegen die sowjetische Besatzung und die kommunistische Regierung in Kabul, verbrachte Mozhdah mehrere Jahre in Pakistan sowie im Iran, wo er in erster Linie als Journalist und Publizist tätig war. Er schrieb über den Krieg in seiner Heimat und analysierte das Geschehen. Während seiner Zeit in Peschawar traf er auch jenen Mann, den Jahre später die ganze Welt kennen sollte: Osama bin Laden, damals bekannt als Abu Abdullah (Arabisch: „Vater von Abdullah“). Für Mozhdah und die meisten anderen Afghanen war der hochgewachsene Araber zum damaligen Zeitpunkt ein Niemand, den sie kaum Beachtung schenkten. Die Situation war eher umgekehrt. Die arabischen Kriegstouristen wollten jene Männer sehen, die den gottlosen Kommunisten trotz spärlicher Bewaffnung das Leben schwer machten. Die Mudschaheddin wurden damals, sprich, in den 1980er-Jahren bereits von allen Seiten dämonisiert und mystifiziert. Für das Politbüro in Moskau und dessen Marionettenregime in Kabul waren sie „Terroristen“. Für die meisten Kontrahenten der Sowjetunion, allen voran die Vereinigten Staaten und ihre westlichen Verbündeten, handelte es sich um „Freiheitskämpfer“. Für Muslime aus anderen Ländern, etwa den reichen Golfstaaten, stellten die Mudschaheddin das Ideal des muslimischen Mannes dar: Reine Gotteskrieger, die bereit sind, für ihren Glauben zu sterben. Für viele Afghanen waren sie eine Mischung aus alldem Genannten. Unterstützer und Sympathisanten des Kabuler Regimes sprachen stets abwertend von den Ashraar (wortwörtlich übersetzt „Schurken“), während die breite Masse sie als fromme Freiheitskämpfer betrachtete und auch dementsprechend unterstützte und zelebrierte. Die Mudschaheddin waren keine heterogene Masse und entstammten aus unterschiedlichen Schichten. Es gab Gruppierungen aus verschiedenen Richtungen des Islams, sprich, Sunniten, Schiiten oder Sufis (de facto ebenfalls Sunniten). Viele der Männer waren einfache Bauern, Arbeiter oder Studenten, Ingenieure und Ärzte.

Nachdem die Mudschaheddin Kabul einnahmen, hofften viele Afghanen auf ein Ende des Krieges. Stattdessen trat das genaue Gegenteil ein. Der Konflikt ging in die nächste Phase über und die verschiedenen Rebellen-Gruppierungen begannen nun, einander zu bekämpfen. Die afghanische Hauptstadt erlebte daraufhin einige der dunkelsten Tage ihrer Geschichte. Während viele Kämpfer bereits nach dem Abzug der Sowjets ihre Waffen niederlegten, stürzten sich nun zahlreiche der verbliebenen Kämpfer über Kabul und plünderten, vergewaltigten und mordeten. Die Straßen stanken nach Tod und verwesten Leichen, während junge Frauen sich von den Dächern jener Plattenbauten, die einst von den Sowjets errichtet wurden, stürzten, um nicht in die Hände jener bewaffneten Männer zu gelangen, die gierig nach ihnen ausschweiften. „Ich war damals ein Kind. Meine Mutter verdeckte meine Augen, als wir durch die Straßen gingen. Sie wollte nicht, dass ich all die Leichen sehe. Doch ich konnte sie riechen und hörte die Fliegen, die sich von ihnen ernährten“, erzählte mir ein Bewohner Kabuls im Februar 2021. Zeitgleich versuchte die zersplitterte Mudschaheddin-Führung, eine provisorische Regierung zu errichten. Mozhdah, der nach langer Zeit wieder in Kabul war, erhielt einen Posten im Außenministerium und war dort hauptsächlich für die MENA-Region verantwortlich. Dies hatte einen Grund: Während seiner Zeit in Pakistan traf Mozhdah viele arabische Freiwillige – heute würde man von sogenannten Dschihadisten sprechen – die sich den Mudschaheddin anschließen wollten. Die meisten von ihnen waren als Ärzte, Lehrer oder Köche tätig. Nur ein Bruchteil war bereit zu kämpfen. Angeführt wurden diese Männer von Abdullah Azzam, einem radikalen, palästinensischen Prediger, der als der Vordenker des bewaffneten Dschihad im 20. Jahrhundert gilt. Das Charisma Azzams gilt bis heute als unangefochten. Binnen weniger Jahre schlossen sich ihm zahlreiche Männer an. Viele von ihnen suchten sein „Dienstleistungsbüro für arabische Mudschaheddin“ („Maktab al-Khidamat al-Mujahideen al-Arabi“) in Peschawar auf, nachdem sie von den sowjetischen Gräueln hörten. Einer dieser Männer war – wenn auch erst im späten Verlauf des Krieges – Osama bin Laden, dessen Mentor Azzam wurde. „Abdullah Azzam war ein rhetorisches Genie. Nach seinen Reden fühlte man sich in gewisser Art und Weise erleuchtet. Man sah viele Dinge klarer und wollte diesem Mann folgen“, erinnerte sich Mozhdah. Azzams Biografie wurde in den letzten Jahren mehrfach aufgeschrieben. Ein kurzer Blick in ihr ist notwendig, um jene dschihadistischen Strömungen, die in vielen Teilen der Welt bis heute präsent sind, ansatzweise zu verstehen. Während des Sechs-Tage-Krieges im Jahr 1967 verließ Azzam mitsamt seiner Familie das Westjordanland und flüchtete nach Jordanien. Seitdem galt er als Geflüchteter, der seine palästinensische Heimat nie wieder sah. Bereits zu diesem Zeitpunkt war Azzam stark von der ägyptischen Muslimbruderschaft beeinflusst. Er bewunderte ihre Ideologie, während er jene der säkularen, arabischen Nationalisten zunehmend verachtete und sie für die Miesere in Palästina mitverantwortlich machte. Während der Gründung Israels erlebte der achtjährige Azzam den Einsatz vieler arabischer Milizen persönlich. Die meisten von ihnen waren keine Islamisten, sondern säkulare Araber, darunter auch viele Nicht-Muslime, die Alkohol und Drogen konsumierten. „Der wahre Islam war kein Teil der Schlacht von 1948“, resümierte Azzam später.

Mit Beginn seines Exils wirkte Azzam in mehreren arabischen Staaten und entwickelte sich zu einem islamistischen Prediger, der die muslimische Welt von ihren Besatzern befreien wollte. Konkret handelte es sich hierbei neben den Israelis, die ihn heimatlos gemacht hatten, um die Amerikaner, die Briten und die Sowjets. Hinzu kamen die nationalistischen, arabischen Führer, die Azzam aufgrund des von ihnen proklamierten Säkularismus sowie ihrer Nähe zur Sowjetunion als Frevler betrachtete. Um für seinen großen Kampf Stimmung zu machen, reiste Azzam durch zahlreiche Länder. Bin Laden, seinen späteren Schüler, traf er das allererste Mal etwa nicht in Pakistan, sondern – so unvorstellbar das heute klingen mag – in einem islamischen Zentrum in Indianapolis im US-Bundesstaat Indiana, wahrscheinlich im Jahr 1978. Im Gegensatz zu heute konnten sich islamistische Prediger damals um einiges freier bewegen und umso einfacher Personal rekrutieren. Die amerikanischen Sicherheitsbehörden fokussierten sich nicht auf mögliche islamistische Feinde, sondern auf den Kommunismus. Beide Seiten lernten in diesem Kontext, in gewissen Situationen voneinander zu profitieren. Besonders deutlich wurde dies im Fall des afghanischen Warlords und Mudschaheddin-Führers Gulbuddin Hekmatyar und dessen Partei Hizb-e Islami, der sich Hunderttausende von Afghanen anschlossen. Hekmatyar gehörte zu den Erzfeinden des kommunistischen Regimes in Kabul. Bereits in seinen Studentenjahren machte er sich einen Namen als Kommunistenjäger und scharte zahlreiche Anhänger um sich. In mindestens einem Fall, der sich während der Daoud-Ära ereignete, wurde dem jungen Hekmatyar sogar Mord angelastet. Nach einem Zusammenstoß zwischen linken und islamistischen Studenten wurde ein junger Maoist namens Saydal Sokhandan tot aufgefunden. Einigen Quellen zufolge war der Täter jedoch nicht Hekmatyar, sondern ein Mann namens Mohammad Karim, einer seiner Bewunderer. Er wurde für die Tat nie belangt. Währenddessen wurden Hekmatyar und andere junge Islamistenführer vom Daoud-Regime verhaftet. Der Schritt hat lediglich zu deren fortführenden Heroisierung unter deren Anhängern beigetragen. Während Hekmatyar in seiner Zelle saß, empfing er durchgehend Besuch und wurde mit Geschenken überhäuft. Während des Krieges gegen die Sowjetunion gehörte Hekmatyars Partei zu den Hauptprofiteuren westlicher Gelder. Hekmatyar, weiterhin ein Radikaler, der den Westen verachtete, wusste sehr wohl, wie er mit seiner Rolle zu spielen hat. Ähnlich wie Azzam, allerdings um einiges bekannter und beliebter in vielen muslimischen Gemeinschaften, tourte Hekmatyar durch zahlreiche Staaten. In Westdeutschland traf er unter anderem Franz Josef-Strauß und Willy Brandt. Hekmatyar sprach vor Muslimen in München und in anderen Städten über die Gräuel der Roten Armee. Doch gleichzeitig warnte er sein Publikum vor den „anderen Kolonialisten“, sprich, den westlichen Staaten, die, so betonte er, in Afghanistan keine höheren Ziele, sondern lediglich ihre eigenen Interessen verfolgen würden. Ein Treffen mit dem damaligen US-Präsidenten Ronald Reagan sagte Hekmatyar bewusst ab. Als die USA und ihre Verbündeten fast zwei Jahrzehnte später in Afghanistan einmarschierten, erklärte ihr ehemaliger Verbündeter ihnen den Krieg. Gulbuddin Hekmatyar wurde von nun an von Washington, London oder Berlin als „Terrorist“ betrachtet.

Azzams Büro, das in den 1980er-Jahren enge Kontakte zu Hekmatyar und den anderen Mudschaheddin-Führern pflegte, wurde in Peschawar zum Dreh- und Angelpunkt der „afghanischen Araber“ – so wurden die ausländischen Mudschaheddin-Kämpfer genannt. Auf dem Schlachtfeld gegen die Sowjets spielten diese Männer, immerhin einige Tausend, keine nennenswerte Rolle. Der Krieg wurde hauptsächlich von den Afghanen ausgetragen, und nicht wenige von Azzams Kämpfern konnten sich mit deren Sitten und Bräuche nicht anfreunden. Die Mehrheit Afghanistans besteht aus sunnitischen Muslimen der hanafitischen Rechtsschule. Innerhalb des Sunnitentums gibt es noch drei weitere Rechtsschulen, die malikitische, die hanbalitische sowie die schafiitische, deren Anhänger sich sowohl in Nordafrika als auch auf der arabischen Halbinsel finden lassen. Hinzu kam, dass einige sufistische Bräuche, etwa das Aufsuchen von Schreinen, unter den Afghanen seit Jahrhunderten verbreitet war und von den Arabern kritisch beäugt wurde. Azzam wollte dem entgegenwirken, indem er seinen Kämpfern über die Realitäten vor Ort aufklärte und darauf hinwies, lokale Bräuche zu respektieren. Das Letzte, was er sehen wollte, war ein konfessioneller Konflikt zwischen Muslimen. Abdullah Azzam gilt heute als eine Art „Pate des globalen Dschihad“. Viele dschihadistische Terrorgruppierungen, die heute zahlreiche Länder heimsuchen – darunter auch Osama bin Ladens Al-Qaida, lassen sich in gewisser Hinsicht auf ihn zurückführen – oder auch nicht. Denn selbst das „Büro“ von Azzam war heterogen, und radikalere Kräfte – heute spricht man von salafistisch-dschihadistischen Akteuren – versuchten schon bald, es auf eine andere Schiene zu bringen. Eine besonders problematische Entwicklung fand seitens Aiman az-Zawahiris statt, eines ägyptischen Arztes, der später als Nummer Zwei von Al-Qaida bekannt werden sollte. Az-Zawahiri war aufgrund seiner Erfahrungen in Ägypten bereits vor seiner Ausreise nach Pakistan ein überzeugter Extremist, der sich die Ideologie des Takfir zu eigen gemacht hatte und Individuen oder ganze Gruppen per se aus dem Islam ausschloss, sprich, zu Nicht-Muslimen erklärte und sie zum Abschuss freigab. Selbst viele jener afghanischen Mudschaheddin, die die Sowjets bekämpften, wurden von az-Zawahiri und seinen Anhängern als verirrte Menschen, die teils schon längst vom Glauben abgefallen sind, betrachtet. Die Lehre Abdullah Azzams wurde den Takfiris um az-Zawahiri, die auch Osama bin Laden mit Blick auf dessen finanzielle Ressourcen auf ihre Seite gezogen hatten, irgendwann ein Dorn im Auge. Es steht außer Frage, dass Azzam selbst ein radikaler Prediger war und bis heute nicht umsonst Pionier des globalen, bewaffneten Dschihad betrachtet wird. Er war der Vordenker von Bewegungen, die bis bis heute für Angst und Schrecken sorge und Terror verbreiten. Doch gleichzeitig war er auch das Symptom einer viel größeren Problematik. Azzam betrachtete die Sowjetunion, die Vereinigten Staaten, Israel, das ihn vertrieben hatte, und die säkular-nationalistischen Diktaturen in der arabischen Welt als Feinde der Muslime, die man bekämpfen müsse. Die sowjetische Invasion Afghanistans war für ihn das Paradebeispiel eines „defensiven Dschihad“, der – und das argumentierte er mehrmals ausführlich – die Pflicht eines jeden Muslims sei, ähnlich wie das tägliche Gebet oder das Fasten im Monat Ramadan. Mit seiner Begründung hierfür stand Azzams keineswegs alleine da. Seiner Auffassung nach fand ein massiver Angriff auf den muslimischen Glauben der Afghanen statt, ausgeführt von der Roten Armee und ihren afghanisch-kommunistischen Verbündeten in Kabul. Die genannten Akteure boten mit ihren Taten den Islamisten praktisch Vorlagen an. Sie griffen Schulen und Moscheen an oder massakrierten praktizierende Muslime, meist Bauern, Arbeiter oder Studenten. Azzam und andere Prediger beobachteten das Geschehen genau und verpackten derartige Kriegsverbrechen stringent und rhetorisch in ihren Argumenten, die daraufhin massiven Anklang fanden. „Ich hörte über all die Gräueltaten der Sowjets und musste weinen. Ich konnte nicht tatenlos bleiben“, erzählte mir Mohamedou Ould Slahi, der Autor des bekannten „Guantanamo-Tagebuchs“, Jahre später. Der gebürtige Mauretanier gehörte in den späten 1980er-Jahren zu jenen Muslimen, die nach Afghanistan reisten, um an der Front zu kämpfen. 2002 wurde Slahi aufgrund vermeintlicher Verbindungen zu Al-Qaida-Extremisten entführt und im neu errichteten US-Gefangenenlager in Guantanamo vierzehn Jahre lang ohne Anklage inhaftiert und gefoltert.

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01.09.2021, 16:41

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