Eine neue Geschichte der DDR 1949-1990

Leseprobe War die DDR ein graues Land voller hoffnungsloser Existenzen? Die renommierte Historikerin Katja Hoyer zeigt in ihrem überraschenden Buch auf profunde und unterhaltsame Weise, dass das andere Deutschland mehr war als Mauer und Stasi
Das Auto der DDR: der Trabant
Das Auto der DDR: der Trabant

Foto: Steve Eason/Hulton Archive/Getty Images

Vorwort

Halle, Sachsen-Anhalt, 3.Oktober 2021. Eine 67-jährige Frau in einem cremefarbenen Blazer und einer schwarzen Hose betrat die Bühne. Sie war die vielleicht mächtigste Frau der Welt, und man erkannte sie sofort. Ihre Hosenanzüge, ihr blonder Kurzhaarschnitt und ihr nüchternes Auftreten waren längst zum Markenzeichen geworden. Als sie ihren Platz zwischen den Flaggen Deutschlands und der Europäischen Union einnahm und die Mikrofone am Rednerpult justierte, spürten viele im Publikum, dass sie einem historischen Moment beiwohnten. Nach 16 Jahren an der Spitze der größten europäischen Demokratie war die scheidende deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel gekommen, um über nationale Einheit zu sprechen.

Der 3. Oktober ist das, was einem deutschen Nationalfeiertag am nächsten kommt. Der Tag der Deutschen Einheit erinnert an die Wiedervereinigung des Landes im Jahr 1990, nachdem 41 Jahre lang zwei getrennte deutsche Staaten existiert hatten: die Bundesrepublik Deutschland im Westen und die Deutsche Demokratische Republik im Osten. Auf den Tag genau 31 Jahre waren seitdem vergangen. Nach dieser historisch relativ kurzen Zeitspanne war die Ära der deutschen Teilung jedoch keinesfalls Geschichte. Ganz im Gegenteil: Die Wiedervereinigung, so begann die scheidende Kanzlerin ihre Ansprache, sei ein Ereignis, »das die meisten von uns bewusst erlebt haben und das [...] unser Leben verändert hat«.1

Das Jahr 1990 war nicht nur für die deutsche Nation, sondern auch für Merkel persönlich ein Wendepunkt. Es markierte den Beginn ihres steilen Aufstiegs an die Spitze der deutschen Politik. Im Jahr 1954 war ihr Vater mit der Familie von Westnach Ostdeutschland umgezogen, als sie gerade drei Monate alt war. Die ersten 35 Jahre ihres Lebens hatte Merkel östlich der innerdeutschen Trennungslinie verbracht. In diesen Jahren hatte sie sich von der Pastorentochter zur selbstbewussten Wissenschaftlerin entwickelt, was sie mindestens ebenso geprägt hatte wie die drei Jahrzehnte seit 1990.

Angela Merkels lange Karriere an der Spitze der deutschen Politik steht exemplarisch für die vielen Erfolge der Wiedervereinigung. Als der ostdeutsche Staat, der ihre Heimat gewesen war, plötzlich zerfiel und Teil des westdeutschen Systems wurde, welches man bislang als den »Klassenfeind« angesehen hatte, machte sich Merkel unverzüglich an die Arbeit, ohne zurückzuschauen. Oder zumindest, ohne dies öffentlich zu tun. Sie erkannte, dass ihre ostdeutsche Herkunft auf dem Papier einen politischen Vorteil in einem Land darstellte, das zeigen wollte, dass es nun eine geeinte Nation war. Tatsächlich aber galt dies nur, solange ihre Herkunft nicht vordergründig ihre Identität bestimmte. Das Establishment wollte nicht ständig daran erinnert werden, dass es länger dauern würde, die Mauern in den Köpfen der Ostund Westdeutschen niederzureißen als die physische Mauer.

In den seltenen Fällen, in denen Merkel Einzelheiten über ihr Leben in der DDR preisgab, wurde dies in den Machtzirkeln, die auch heute immer noch weitgehend von ehemaligen Westdeutschen dominiert werden, mit Feindseligkeit aufgenommen. Als sie 1991 erzählte, sie habe 1978 für ihre Doktorarbeit einen Aufsatz mit dem Titel »Was ist sozialistische Lebensweise?« schreiben müssen, setzten Journalistinnen und Journalisten Himmel und Hölle in Bewegung, um die Arbeit zu finden. »Sie glaubten, da gäbe es Gott weiß was für einen Skandal zu enthüllen«, sinnierte Merkel später.2 Solche politischen Arbeiten gehörten zum Universitätsleben in der DDR und wurden von vielen als lästig empfunden, so auch von Merkel selbst, die für diesen Aufsatz die einzige schlechte Note in einer ansonsten glänzenden akademischen Laufbahn erhielt. Wie viele andere Aspekte des Lebens in der DDR zeigte auch diese Episode, dass »es offenbar unheimlich schwer ist, heute zu verstehen und begreiflich zu machen, wie wir damals gelebt haben«, wie Merkel kurz vor ihrer Wahl zur Bundeskanzlerin im Jahr 2005 anmerkte. [3]

Merkel hatte sich zwar damit abgefunden, ihre ostdeutsche Vergangenheit am besten für sich zu behalten, doch blieb sie trotzdem ein Teil von ihr, den sie nicht loslassen konnte. Im Oktober 2021, als ihr politischer Ruhestand in Sicht war, nutzte sie die Gelegenheit ihres letzten Tages der Deutschen Einheit im Amt, um sich damit auseinanderzusetzen, dass ostdeutsche Lebensgeschichten wie die ihre als eine Art Leiche im nationalen Keller

behandelt wurden. Eine Publikation der parteinahen KonradAdenauer-Stiftung hatte die politische Anpassungsfähigkeit der Kanzlerin angesichts des »Ballasts« ihrer DDR-Biographie gelobt.[4] Diese unglückliche Formulierung ärgerte die Kanzlerin sichtlich. »Ballast?«, empörte sie sich über diese Bewertung ihres früheren Lebens. Der Duden definiere Ballast als »schwere Last [...] bestenfalls zum Gewichtsausgleich tauglich, im Grunde aber als unnütze Last abzuwerfen«.[5] In diesem ungewöhnlich persönlichen öffentlichen Moment, so betonte sie, spreche sie nicht als Kanzlerin, sondern auch »als Bürgerin aus dem Osten [...], als eine von mehr als sechzehn Millionen Menschen, die ein Leben in der DDR gelebt haben und die immer wieder solche Urteile erleben [...], als ob dieses Leben vor der deutschen Wiedervereinigung nicht wirklich zählte [...], egal welche guten und schlechten Erfahrungen man gemacht hat«. [6]

Merkels Frustration darüber, dass ihr früheres Leben in Ostdeutschland als unerheblich abgetan wurde, teilen viele ihrer ehemaligen DDR-Mitbürger. Seit 1990 haben Umfragen gezeigt, dass die Mehrheit sich im wiedervereinigten Deutschland weiterhin als »Bürger zweiter Klasse« behandelt fühlt. Zwei Drittel empfinden dies auch heute noch so. [7] Viele haben explizit oder implizit Druck erfahren, ihren ostdeutschen »Ballast« abzuwerfen und sich nahtlos einer für sie neuen Kultur anzupassen. Selbst Merkel, die sich äußerst erfolgreich an die Welt nach der Wiedervereinigung anpasste und eine steile politische Karriereleiter bis an die Spitze erklomm, wurde von der Presse stets daran erinnert, dass es gelegentlich »durchscheine«, dass sie »keine geborene Bundesdeutsche und Europäerin« sei [8] – als ob sie keine »gebürtige«, keine »ursprüngliche« Bürgerin des Landes sei, zu dessen Führung sie gewählt worden war. Nach 16 Jahren im höchsten politischen Amt des wiedervereinten Deutschlands musste sie als Ostdeutsche immer noch ihre Zugehörigkeit beweisen, indem sie ihre Vergangenheit verleugnete.

So wie einzelne Ostdeutsche gehalten sind, die Spuren ihrer Vergangenheit vor 1990 möglichst zu verwischen, scheint sich die Nation als Ganzes mit der DDR als Kapitel ihrer Geschichte äußerst unwohl zu fühlen. In vielerlei Hinsicht begann der Prozess, die DDR aus der nationalen Erzählung herauszuschreiben, schon vor ihrem endgültigen Untergang. Nach dem Mauerfall 1989 erklärte der ehemalige westdeutsche Bundeskanzler Willy Brandt: »Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört.« Für viele Deutsche in Ost und West erschien die Teilung ihres Landes, die während des Kalten Krieges eine Tatsache gewesen war, nun als unnatürlicher Zustand, als Produkt des Zweiten Weltkriegs und vielleicht als Strafe für dessen Auswirkungen. Hatte Deutschland bis 1990 nicht genug getan, um dieses dunkle Kapitel seiner Vergangenheit zu überwinden? Hatte es nicht einen Neuanfang verdient, ohne ständig daran erinnert zu werden? Francis Fukuyamas Einordnung vom Ende des Kalten Krieges als »Ende der Geschichte« schien auf Deutschland besonders zuzutreffen. Die Nation wollte, ja, musste die Wiedervereinigung als glückliches Ende des wechselvollen 20.Jahrhunderts definieren. In den fortbestehenden Auswirkungen der jahrzehntelangen Teilung Deutschlands etwas anderes als ferne Geschichte zu sehen, zerstört diese tröstliche Illusion. Wenn die DDR überhaupt in Erinnerung bleiben soll, dann als eine der deutschen Diktaturen – ebenso weit entfernt, unheimlich und unverzeihlich wie der Nationalsozialismus.

Einen Schlussstrich unter beide deutsche Staaten zu ziehen und 1990 als Neuanfang für alle Deutschen zu begreifen, stand ebenfalls nicht zur Debatte. Die Westdeutschen hatten sich zu sehr mit der Vorstellung von 1945 als ihrer »Stunde Null« angefreundet, dem Zeitpunkt, an dem aus der Asche des Zweiten Weltkriegs die zarten Triebe der Demokratie erwuchsen. Welche Probleme die junge Bundesrepublik auch gehabt haben mochte, der Wohlstand und die Stabilität, die sie hervorgebracht hatte, waren wie ein Trostpflaster für eine Bevölkerung, die seit 1914 nichts anderes als Unruhen und Umbrüche erlebt hatte. Das war ein Deutschland, auf das man stolz sein konnte. Westdeutschland wurde zum Kontinuitätsstaat erklärt und Ostdeutschland zur Anomalie. Die Wiedervereinigung 1990 schien deshalb ein befriedigendes Ende der erzwungenen Trennung zu sein. Und für zahlreiche Ostdeutsche war sie auch genau das. In den Jahren 1989 und 1990 stimmten viele in Wort und Tat für die Auflösung ihres Landes.

Die von beiden Seiten gewollte Wiedervereinigung bedeutet nicht, dass das Leben in Ostdeutschland vergessen oder als irrelevante Geschichte abgehakt werden sollte. Das Auf und Ab der DDR als politisches, soziales und wirtschaftliches Experiment hat Spuren bei ihren ehemaligen Bürgern hinterlassen, die diese Erfahrungen mitgebracht haben – und zwar nicht nur als »Ballast«. Millionen heute lebende Deutsche können und wollen nicht leugnen, dass sie einmal in der DDR lebten. Die Welt, die sie geprägt hat, endete zwar 1989 mit dem Fall der Berliner Mauer, aber ihr Leben, ihre Erfahrungen und ihre Erinnerungen sind nicht mit ihr untergegangen. In den Augen eines Großteils der westlichen Welt jedoch hatte die DDR den Kalten Krieg auf deutschem Boden verloren – wodurch alles, was mit ihr zu tun hatte, moralisch entwertet war. Als die Deutsche Demokratische Republik am 3. Oktober 1990 buchstäblich über Nacht verschwand, verlor sie das Recht, ihre eigene Geschichte zu schreiben. Stattdessen war sie Geschichte geworden. Und Geschichte wird von Siegern geschrieben – auch die der DDR.

In weiten Teilen des Westens ist es schwer zu verstehen, warum sich überhaupt jemand an sein Leben hinter dem Eisernen Vorhang erinnern will. Der Sieg über den Kalten Krieg scheint alternative Lebensmodelle widerlegt zu haben. Während man sich farbenfroh an den westlichen Konsum und die liberalen Werte erinnert, wird die DDR als grauer, eintöniger, verschwommener Fleck dargestellt – als Welt ohne Individualität, Selbstbestimmung oder Sinn. In der westlichen Vorstellung verbrachten die Ostdeutschen 41 Jahre in einer ummauerten russischen Kolonie, die vom Ministerium für Staatssicherheit, besser bekannt als Stasi, kontrolliert wurde. Woran sollte man sich da erinnern wollen?

Die DDR pauschal als Fußnote der deutschen Geschichte abzutun, die man am besten vergisst, ist ahistorisch. Der ostdeutsche Staat bestand über 40 Jahre, länger als der Erste Weltkrieg, die Weimarer Republik und Nazideutschland zusammen. Er war nie das statische Land, das von 1949 bis 1989 von der Zeit vergessen wurde. In diesen Jahrzehnten vollzog sich ein immenser Wandel. Die Entwicklung der DDR wurde zum großen Teil von Ereignissen und Menschen bestimmt, deren prägende Jahre nicht nur in den Jahrzehnten vor dem Mauerbau 1961 lagen, sondern auch vor der Gründung des Landes selbst im Jahr 1949. Deutschland befand sich seit 1914 in einem nahezu konstanten Zustand des Umbruchs, und die wirtschaftlichen, politischen, sozialen und psychischen Folgen der turbulenten ersten Hälfte des 20.Jahrhunderts verschwanden nicht schlagartig mit der Gründung der DDR.

Dieses Buch spürt den Wurzeln der DDR über ihre Gründung hinaus nach, um die Umstände zu verdeutlichen, aus denen das Land 1949 entstanden ist. Ich skizziere die Entwicklungen, die sich durch alle vier Jahrzehnte zogen, anstatt sie als statisches Ganzes zu betrachten. In den 1950er-Jahren war die junge Republik fast ausschließlich damit beschäftigt, ihre politischen und wirtschaftlichen Grundlagen zu stabilisieren. Dies geschah sowohl gemeinsam mit den Bürgern als auch über deren Köpfe hinweg, was in einem Jahrzehnt resultierte, das sowohl von einer Aufbruchstimmung als auch von gewaltsamen Ausbrüchen der Unzufriedenheit geprägt war.

Als 1961 die Berliner Mauer errichtet wurde und damit die Abwanderung von Fachkräften nach Westdeutschland zum Stillstand kam, schien das Land zur Ruhe zu kommen. Ehrgeizige Bauprojekte wie die Neugestaltung des Berliner Alexanderplatzes mit seinem ikonischen Fernsehturm schufen – in Verbindung mit der Raumfahrtbegeisterung und wissenschaftlichen Durchbrüchen – ein echtes Gefühl von Fortschritt und nationaler Identität. Viele Ostdeutsche waren stolz auf ihre Errungenschaften, denn die soziale Mobilität eröffnete den Arbeiterschichten nie da gewesene Möglichkeiten.

Als die Früchte ihrer Arbeit in den 1970er-Jahren den höchsten Lebensstandard in der kommunistischen Welt hervorbrachten, etablierte sich die DDR auf der Weltbühne, wurde Mitglied der UNO und von vielen Ländern weltweit anerkannt. Ostdeutsche Produkte wurden bis nach Großbritannien und in die USA exportiert. Doch die Ölkrisen des Jahrzehnts machten die Schwächen der DDR und ihre Abhängigkeit von der UdSSR, der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken, deutlich. Als Moskau seine versprochenen Ölund Gaslieferungen nicht mehr einhielt, konnte die DDR den Lebensstandard, an den sich die Bevölkerung gewöhnt hatte, nicht länger aufrechterhalten, ohne dabei bankrottzugehen.

Das alternde Regime verlor allmählich den Überblick und hatte keine Ideen mehr. Mitte der 1980er-Jahre war das System verkalkt, unflexibel und brüchig geworden und bedurfte dringend einer Überholung. Als Reformen ausblieben, ergriff das ostdeutsche Volk selbst die Initiative, um einen Wandel herbeizuführen. In jedem Jahrzehnt gab es Phasen der Öffnung gegenüber dem Westen und des Rückzugs auf sich selbst, und die Erfahrungen der Ostdeutschen, gute wie schlechte, wurden von diesen komplexen Gezeiten der Geschichte geprägt.

In jeder Phase der DDR-Geschichte überwachte die Stasi das Leben der Menschen und griff auch häufig in dieses ein, aber sie machte die ostdeutsche Bevölkerung nicht handlungsunfähig. Ebenso war der Staat selbst, obwohl er vom guten Willen Moskaus abhängig war, nie ein passiver sowjetischer Satellit. Die Ostdeutschen lebten und gestalteten ein eindeutig deutsches Experiment, das sich über einen Großteil der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erstreckte. Die politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Eigenheiten der DDR verdienen eine historische Bewertung, die sie nicht nur als ummauertes »Stasiland« behandelt, sondern ihr einen angemessenen Platz in der deutschen Geschichte einräumt.

Dieses Buch stützt sich auf Interviews, Briefe und Aufzeichnungen und lässt eine Vielzahl ostdeutscher Stimmen zu Wort kommen. Ihre Lebensgeschichten sind integraler Bestandteil meiner Darstellung des Staates, den sie geprägt haben und von dem sie geprägt wurden. Zu meinen Interviewpartnern gehörten Politiker wie Egon Krenz, einer der letzten Machthaber der DDR, und Entertainer wie der Schlagersänger Frank Schöbel. In der Mehrzahl aber waren es diejenigen, die den Staat funktionieren ließen: von Lehrerinnen, Buchhalterinnen und Fabrikarbeitern bis hin zu Polizisten und Grenzsoldaten. Das Ergebnis ist eine neue Geschichte der DDR, die alle Facetten dieses verschwundenen Landes zeigt – von der großen Politik bis zum Alltagsleben.

Im Kontext des Kalten Krieges entstanden auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs vereinfachte Bilder des jeweils anderen.

Die DDR stellte den Westen plakativ als Feind dar, während sie ihrerseits zu einer Karikatur der monochromen Welt des Kommunismus geriet, die man jenseits der Mauer vermutete. Mehr als drei Jahrzehnte sind seit dem Ende der DDR vergangen, und eine neue Generation von Deutschen ist ohne physische Grenzen und Trennlinien aufgewachsen. Sie hat weder die Systemkonkurrenz zweier deutscher Staaten noch die Existenz zweier deutscher Armeen erlebt, die ein erschreckendes Waffenarsenal gegeneinander richteten. Da der Kalte Krieg und die tiefe Feindseligkeit, die er hervorbrachte, immer weiter in die Vergangenheit rücken, haben wir nun die Möglichkeit, Ostdeutschland mit emotionaler und politischer Distanz neu zu betrachten.

Vielleicht waren die Wunden der Trennung, der verlorenen und gewonnenen Identitäten, unmittelbar nach der Wiedervereinigung noch zu frisch, um untersucht zu werden, weshalb man es vorzog, sie verkrusten zu lassen. Jetzt ist es endlich an der Zeit, einen neuen Blick auf die DDR zu wagen. Wer dies mit offenen Augen tut, wird eine bunte Welt entdecken, keine schwarz-weiße. Es gab Unterdrückung und Brutalität, ja, aber auch Chancen und Zugehörigkeit. In den meisten ostdeutschen Gemeinden haben die Menschen sowohl das eine als auch das andere erlebt. Es gab Tränen und Wut, und es gab Lachen und Stolz. Die Bürger der DDR lebten, liebten, arbeiteten und wurden alt. Sie fuhren in den Urlaub, machten Witze über ihre Politiker und zogen ihre Kinder auf. Ihr Schicksal verdient einen Platz in der gesamtdeutschen Geschichte. Es ist Zeit, einen ernsthaften Blick auf das Deutschland diesseits der Mauer zu werfen.

Lesen Sie hier weiter: freitag.de/hoyer-leseprobe

07.05.2023, 15:10

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