Geschichte des Aufbruchs

Leseprobe Über 50 Jahre war Fritz Pleitgen Journalist. Nun zieht er Bilanz seines reichen Journalistenlebens. Er gehörte zu den wenigen Reportern, die über den Kalten Krieg zwischen Ost und West hautnah von beiden Seiten des Eisernen Vorhangs berichteten
US-Präsident Ronald Reagan, begutachtet die Ehrengarde des Royal Regiment of Scotland am 12. Juni 1987 nach seiner Landung auf dem Flughafen Berlin-Tempelhof.
US-Präsident Ronald Reagan, begutachtet die Ehrengarde des Royal Regiment of Scotland am 12. Juni 1987 nach seiner Landung auf dem Flughafen Berlin-Tempelhof.

Foto: MIKE SARGENT/AFP via Getty Images

So lange ich allein in Berlin war, hatte ich Zeit, mich mit den neuen Arbeitsverhältnissen vertraut zu machen. Der Unterschied war beträchtlich. In Moskau waren wir ein Miniteam, Es bestand neben mir nur aus unserer Sekretärin Natalia (Natascha) Saltykowa und unserem Kameramann Jürgen Bever. Dagegen spielte das Ost-Berliner Studio in der Schadow-Straße als großes Orchester auf: zwei Fernsehkorrespondenten, zwei Kamerateams (je drei Personen) und ein Fahrer.

Der quirlige Verein wurde von unserer Sekretärin Biggi Woyth organisatorisch zusammengehalten. Ich habe sie als schlagfertige, stets elegant gekleidete Berlinerin in Erinnerung. Zum Studio gehörten noch zwei Hörfunkkorrespondenten mit einer Sekretärin, die gleichzeitig als Tontechnikerin fungierte. Das war unsere Division Ost, und noch nicht alles. Zu unserem Studio zählten überdies zwei Cutterinnen und eine Sekretärin im Büro West, das sich im Gebäude des SFB an der Masurenallee befand.

In unserer „Weststube“ nahmen die beiden Cutterinen die Endfertigung unserer Beiträge vor. Außerdem trafen wir hier unsere Absprachen mit den Redaktionen der ARD-Sender, insbesondere mit ARD aktuell in Hamburg. Wir hielten uns in der Masurenallee für abhörsicher, was ein Irrglaube war, wie wir später unseren Stasiakten entnehmen konnten. Für die Stasi müssen unsere Telefonate ein gefundenes Fressen gewesen sein, weil wir uns mit unseren Kollegen in Hamburg freimütig darüber austauschten, wie wir unsere lästigen Schatten am besten abhängen können.

Gleich nach meiner Ankunft in Ost-Berlin holte ich meine Akkreditierung beim DDR-Außenministerium (AuMi) ab, sonst hätte ich Probleme bei der Ein- und Ausreise bekommen. Der Leiter der Presseabteilung, Wolfgang Meyer, wirkte auf mich locker und jovial, wie ich es von einem DDR-Funktionär eigentlich nicht erwartet hatte. Während meiner ganzen Korrespondentenzeit war Wolfgang Meyer für mich eine Ausnahmeerscheinung im Funktionärs-Apparat der DDR. Seine Souveränität und Effizienz lernte ich in den letzten Tagen des SED-Regimes schätzen. Bei meinem Antrittsbesuch im Sommer 1977 informierte ich ihn, dass die ARD in den letzten zehn Tagen des August Lutz Lehmann und mich auf einem Empfang vorstellen werde, und sprach gleich eine entsprechende Einladung aus. Er sagte seine Teilnahme zu.

Meine Berichterstattung wollte ich ab 1. September aufnehmen. Auch darüber informierte ich Meyer. Was ich ihm nicht mitteilte, war meine Absicht, mich in der Zwischenzeit mit den Verhältnissen in der zweigeteilten Stadt vertraut zu machen. In dieser Hinsicht war die Umstellung auf Berlin schwieriger als auf andere Metropolen in der Welt; Peking und Pjöngjang vielleicht ausgenommen. Um schnell Tritt zu fassen, führte ich intensive Gespräche mit meinen Kollegen und Kolleginnen im ARD-Studio wie auch mit den anderen westdeutschen Korrespondenten in Ost-Berlin. Lutz Lehmann hatte seine Berichterstattung bereits aufgenommen.

Die Gästeliste für den Empfang erweiterte ich um die Namen, die mir Lew Kopelew ans Herz gelegt hatte. Keiner von ihnen kam. Meyer erschien auch nicht. Was sie vom Kommen abgehalten hatte, war abzusehen. Der Grund hieß Rudolf Bahro. Der Philosoph aus der DDR brachte just am Tag unseres Empfangs mit Hilfe der Europäischen Verlagsanstalt Köln unter dem Titel Die Alternative ein Buch heraus, das schonungslose Kritik am Sozialismus der Sowjetunion und der DDR übte. Insofern hatten wir einen Einstand nach Maß! DER SPIEGEL veröffentlichte vorab einen Auszug samt Interview mit dem Autor. Am selben Tag strahlten ARD und ZDF ebenfalls Interviews mit Bahro aus, die Lutz Lehmann bzw. Dirk Sager geführt hatten.

Wie mir Lutz Lehmann in unserer „abhörsicheren“ Weststube anvertraute, waren die Interviews einige Tage vorher aufgezeichnet worden. Nach Absprache der Beteiligten sollten alle Interviews an einem Tag herauskommen. Wie sich später herausstellte, waren die Veröffentlichungen für die Stasi keine Überraschung; sie hatte alles mitgeschnitten, aber entgegen sonstiger Gewohnheit nicht unterbunden. Die Absichten der Stasi waren für Normalsterbliche unergründlich.

Die Veröffentlichungen riefen gegensätzliche Reaktionen hervor. Im Westen lösten sie breite Diskussionen aus. Marxistische Philosophen wie Herbert Marcuse und Ernest Mandel zeigten sich entzückt, nur Studentenführer Rudi Dutschke betrachtete Bahros Ideen als altbackenen Leninismus. Die DDR-Medien verloren kein Wort über Bahros Buch, obwohl seine Thesen in der ostdeutschen Bevölkerung, vermittelt durch die westdeutschen Fernsehsendungen, beachtliche Aufmerksamkeit fanden. Auch auf unserem Empfang war Bahros Alternative beherrschendes Thema, was von Meyers Abgesandten des DDR-Außenministeriums aufmerksam registriert wurde. Sie selbst zogen nur die Schultern hoch, wenn wir sie fragten.

Anders der Schriftsteller Stefan Heym. Als einer der wenigen Vertreter der Ost-Berliner Kunst- und Kulturszene, der auf unserer Party erschienen war, beschrieb er die Reaktion der DDR-Führung unverblümt: „Honecker und seine Spießgesellen sind zutiefst beunruhigt. Sie haben gleich die Stasi losgeschickt, um kritische Geister wie mich und andere zu belagern. Vor meinem Haus hat der Staatssicherheitsdienst in besonders auffälliger Form Posten bezogen, um mich einzuschüchtern und Besucher abzuschrecken. Günter Kunert geht es genauso.“

Nun wusste ich Bescheid, warum Christa und Gerhard Wolf nicht zu unserem Empfang gekommen waren. Vermutlich war der Geheimdienst auch vor ihren Türen in Stellung gegangen. Seit ihrem Protest gegen die Biermann-Ausbürgerung genossen die Wolfs Mielkes besondere Aufmerksamkeit. Warum sollten sie sich in dieser Zeit der Hypernervosität wegen eines Empfangs überflüssiger staatlicher Verdächtigungen aussetzen?

Stefan Heym zeigte sich von solchen Befürchtungen nicht im Mindesten angekränkelt. Mit sarkastischen Bemerkungen machte er sich über die Ängstlichkeit des SED-Regimes lustig, mochten die Ohren der Vertreter des DDR-Außenministeriums in der Nähe sein oder nicht. In seiner Haltung blieb Heym bis zum Ende der DDR stabil. Er suchte den offenen Kontakt zu mir. Während meiner Korrespondentenzeit war er mein wichtigster Gesprächspartner. Seine Adresse ist bis heute bombenfest in meinem ansonsten altersgeschwächten Gedächtnis abgespeichert: Rabindranath-Tagore-Straße 9.

Rudolf Bahro bewahre ich ebenfalls in ehrender Erinnerung. Sein Interview mit Lutz Lehmann hat dem ARD-Studio DDR einen gelungenen Neustart verschafft. Das SED-Regime kannte indes keine Gnade. Es ließ den Philosophen zu acht Jahren Gefängnis verurteilen. Zur Verbüßung der Strafe wurde Bahro in der MfS-Haftanstalt Bautzen eingekerkert. Heute ist sie eine Gedenkstätte. Ich habe sie mir angesehen und war entsetzt über die kriminelle Energie, mit der die Stasi Rudolf Bahro psychisch zerstören wollte. Wer eine Vorstellung gewinnen will, was ein autokratisches Regime seinen Bürgern antun kann, sollte sich die Zeit für den Besuch der Gedenkstätte in Bautzen nehmen. Leider hat Rudolf Bahro später auch in der Bundesrepublik Deutschland nicht sein Glück gefunden.

18.08.2021, 12:43

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