Revolutionär und Gegner Stalins

Leseprobe Leo Trotzki war einer der bekanntesten und umstrittensten revolutionären Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts. Der überzeugte Internationalist war einer der produktivsten politischen Schriftsteller der sozialistischen und kommunistischen Bewegung...
Der russische Revolutionär Leo Trotzki
Der russische Revolutionär Leo Trotzki

Foto: no data/ Public domain via Wikimedia Commons

Über alle politischen Umbrüche hinweg frisst sich der Judenhass an die Oberfläche: 1918 setzten entmachtete russische Monarchisten die Legende von der Verbindung der Bolschewiki mit den Bankhäusern Kuhn & Loeb, Warburg und Rothschild in Umlauf, die Hitlers Propagandisten wiederholten. [1] In der Sowjetunion war von Zionisten statt von »jüdischen Bolschewisten « die Rede. [2] Heute vermengen »patriotische« Kreise und klerikale Eiferer in Russland beides zum übel riechenden Gebräu. [3] Aber auch Verschwörungstheoretiker, die unter falscher linker Flagge auf Irrfahrt sind, berauschen sich daran. [4]

Doch hat der antisemitische Hass gegen Trotzki eine weitere Ursache: Jahrhunderte lang waren Juden der schwächste Teil der Gesellschaft; wer sich an ihnen verging, um dem eigenen, erbärmlichen Selbstwertgefühl auf die wackligen Beine zu helfen, hatte oftmals wenig zu befürchten. Trotzkis Sieg im Bürgerkrieg aber war auch der Sieg des wehrhaften Juden über den antisemitischen Terror. »Man muss einen Moment innehalten, um all dies zu begreifen«, schrieb der Historiker Albert Lindemann, »dass ein Sohn jüdischer Eltern aus dem Russischen Reich nicht nur ein herausragender revolutionärer Propagandist, sondern auch ein Mann der Tat, atemberaubender persönlicher Tapferkeit, ein in der Industriearbeiterschaft überaus populärer Redner und ein brillanter militärischer Führer werden würde.« [5]

Nach seinem Anschluss an die Bolschewiki im Jahre 1917 sah Trotzki die Partei als alleinigen Garanten des historischen Fortschritts, was die Bekämpfung des Antisemitismus einschloss. Noch auf dem XIII. Parteitag der RKP(B) im Mai 1924 erklärte er: »Die Partei hat letzten Endes immer recht, denn die Partei ist das einzige historische Instrument des Proletariats zur Lösung seiner wichtigsten Aufgaben. Ich sagte bereits, dass es nichts Leichteres gibt, als vor den Reihen der eigenen Partei einen Fehler einzugestehen, nichts Leichteres, als zu sagen: All meine Kritik, meine Erklärungen, meine Warnungen, meine Proteste, all das war ein einziger großer Irrtum. Ich aber, Genossen, ich kann das nicht aussprechen, weil ich nicht so gedacht habe. Ich weiß, man soll gegenüber der Partei nicht recht haben wollen. Man kann nur recht haben mit der Partei und durch die Partei, denn die Geschichte hat keinen andern Weg gewiesen zur Verwirklichung dessen, was recht ist. Die Engländer sagen: ›Recht oder Unrecht – mein Vaterland‹. Mit wie viel größerer historischer Berechtigung können wir sagen: Recht oder Unrecht in besonderen Einzelfragen – es ist meine Partei.« [6]

Der zunächst fast unblutige Umsturz des Oktober 1917, an dem Trotzki solch entscheidenden Anteil hatte, sollte die Massenmorde des Weltkrieges stoppen. Trotzkis Rote Armee beendete den Massenmord an den Juden in einem Bürgerkrieg, in dem beide Seiten zu brutalsten Mitteln griffen. Doch ihre Ziele waren einander entgegengesetzt, und dies zeigte sich auch in der Haltung zum Antisemitismus.

Der Rote Terror siegte über den Weißen Terror, auch durch die Unterstützung vieler Juden. Aber der Terror zerstörte Sieger wie Besiegte auf Dauer. Die besiegte weiße Konterrevolution nahm den Hass auf Kommunisten und Juden mit ins Exil. Dieser Hass wurde zum Lehrstück für die Wegbereiter des Holocaust. Zugleich gehörten zu den Siegern jene, die Sozialismus und Kommunismus nur als Königsweg zur Diktatur sahen, deren Verbrechen ihren Zielen Hohn sprachen. Die hellsichtige Warnung seiner frühen Jahre, die Trotzki später zu verdrängen suchte, wurde zur Realität: Die Partei, in deren Dienst er trat, errichtete ein barbarisches Regime über die ganze Gesellschaft, verstieß Trotzki und bekämpfte ihn gnadenlos. Stalin, der Diktator über die Partei, ließ ihn ermorden. Stalins Anhänger verleumdeten Trotzki ohne Ende – auch mithilfe des Antisemitismus. Doch unter Stalin widerstand die Sowjetunion Hitler und damit der völligen Barbarei – bevor Stalin am Ende seines Lebens Juden als Feinde betrachtete und als »Kosmopoliten « jagte, sie zu Parias der Gesellschaft erklärte und ihre Intellektuellen umbrachte. Sah er zuletzt in jedem Juden einen potenziellen Trotzki? Stalins Tod verhinderte die Erhebung des offenen Antisemitismus zum Instrument sowjetischer Politik.

Doch so sehr der Konterrevolutionär Stalin den Revolutionär Trotzki und selbst noch dessen Schatten hasste, so wenig konnte er dessen Vermächtnis auslöschen. Zu diesem Vermächtnis gehören die hier abgedruckten Texte Trotzkis. In ihnen wird deutlich, welchen Beitrag er »zum Bildungsgut im Allgemeinen geleistet hat«. [7] Trotzkis späte Schriften gemahnen an seine frühe Schilderung der Pogrome des Jahres 1905. Im »Bodensatz der Gesellschaft«, den der Faschismus für die Politik entdeckte, erblickte Trotzki von Neuem das Fußvolk des Antisemitismus, auf das die Herrschenden zurückgreifen, wenn sie in Krisenzeiten den Unmut desorientierter und brutalisierter Menschen auf einen Sündenbock abzulenken suchen. Der Faschismus paarte, auch dies sah Trotzki, technische Rationalität und Modernität mit der Verfolgung irrationalster Ziele.

Wie nur sehr wenige Zeitgenossen hatte Trotzki in diesen Schriften der Menschheit »auf den Grund geschaut«. [8] Aber sein Verständnis von Anthropologie endete nicht dort. Der Mensch sei zum Schlechtesten wie zum Besten fähig, und Trotzki sah als den ersten und letzten Antrieb seines ganzen Wirkens die Herbeiführung einer Sozialordnung, die an die besten Eigenschaften des Menschen appelliert. Der Antisemitismus aber war, daran ließ er keinen Zweifel, die Verneinung eines Denkens, auf dem jede humane Ordnung beruht.

Trotzkis revolutionärer Geist sucht noch immer die Nachfolger der Schwarzhunderter – mit oder ohne kommunistische Maskierung – wie auch der Faschisten und ihren demokratisch verkleideten Anhang heim. Er war und blieb über seinen Tod hinaus Zielscheibe sowohl des Antikommunismus und Antisozialismus als auch – und vor allem – des Antisemitismus. Mögen manche seiner Aussagen und Vorhersagen in das Reich der Geschichte verwiesen sein, Trotzkis Schriften zum Judenhass und Faschismus wie sein lebenslanger Kampf um eine sozialistische Gesellschaft sind es nicht. Sein ganzes Leben stand Trotzki gegen jederart Verschwörungstheorie. Er war die Antithese zu Hitler wie auch zu Stalin. Doch ging er lange von einer weniger tragischen sozialen Entwicklung der Menschheit aus, als sie das 20. Jahrhundert bot. Ein Weg, der nach Auschwitz führte, hatte in dieser Konzeption der Geschichte keinen Platz. Gegen Ende seines gewaltsam abgebrochenen Lebens aber sah Trotzki, noch bevor die Krematorien zu rauchen begannen, wohin der Faschismus führte.

Den Kampf gegen Antisemitismus und Faschismus in jeder Form und Verkleidung zu führen ist uns weiter aufgegeben. In diesem Kampf bleiben Trotzkis Schriften ein wichtiges geistiges Marschgepäck. Erst wenn einst dem Antisemitismus wie dem Faschismus, diesen Geißeln der Menschheit, jede politische Wirkung genommen sein sollte – dann, und erst dann, sind die hier versammelten Texte Leo Trotzkis Teil der Geschichte.

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1 »Einer der Hauptträger des Umsturzes, der Jude Bronstein-Trotzki, hat von Jacob Schiff, Max Warburg und anderen Juden den Auftrag erhalten, in Russland die Revolution zu schüren. Die Unterstützung, die jüdische Finanzkreise der Vereinigten Staaten auch heute den jüdischen Bolschewisten in der Sowjetunion leihen, ist in höchstem Grade geeignet, diese Angaben zu bestätigen.« (Rudolf Kommoss: Juden hinter Stalin – Lage und Aussichten. Die jüdische Vormachtstellung in der Sowjetunion aufgrund amtlicher sowjetischer Quellen dargestellt, Berlin/Leipzig 1938, S. 25) Kommoss tauchte 1945 unter; seine Spur verlor sich.

2 Zu entsprechenden sowjetischen Äußerungen vgl. Robert S. Wistrich: Der antisemitische Wahn. Von Hitler bis zum heiligen Krieg gegen Israel, München 1987, S. 351 u. 445.

3 Vgl. Ulrich Herbeck: Das Feindbild vom »jüdischen Bolschewiken«. Zur Geschichte des russischen Antisemitismus vor und während der Revolution, Berlin 2009, S. 120; Walter Laqueur: Black Hundred. The Rise of the Extreme Right in Russia, New York 1993, S. 31. Beide Bücher (und zahlreiche andere) verweisen auch auf die spezielle, sich als »nationalbolschewistisch« verstehende Variante des russischen »Patriotismus« mitsamt ihren Attacken gegen Trotzki als Juden wie als Internationalisten.

4 So ist auf einer Website, die den Namen »Neue Rheinische Zeitung« usurpiert hat, zu lesen: »In New York war Felix Warburg, Bruder von Max und Paul, über seinen Schwiegervater Jacob Schiff an dem Geldtransfer für Trotzki beteiligt.« (Wolfgang Effenberger: Die Welt im Zangengriff der Milliardäre, in: Neue Rheinische Zeitung, 25. Januar 2017, http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=23495) Kenneth D. Ackermann zeigt in »Trotsky in New York, 1917. A Radical on the Eve of Revolution «, Berkeley 2016, S. 318–321, dass Schiff Kerenski, doch keineswegs Trotzki finanziell unterstützte und schon ab Ende 1917 antibolschewistische Aktivitäten finanzierte.

5 Albert S. Lindemann: Esau’s Tears. Modern Anti-Semitism and the Rise of the Jews, Cambridge [UK]/New York 1997, S. 424f.

6 Zit. nach Isaac Deutscher: Stalin. Eine politische Biographie [1949], Berlin 1990, S. 362.

7 Pierre Broué: Trotzki. Eine politische Biographie, Bd. 1: Vom ukrainischen Bauernsohn zum Verbannten Stalins, Köln 2003, S. 487.

8 Norman Geras: Marxisten angesichts des Holocaust: Trotzki, Deutscher, Mandel, in: Gilbert Achcar (Hrsg.): Gerechtigkeit und Solidarität. Ernest Mandels Beitrag zum Marxismus, Köln 2003, S. 215.

09.08.2022, 18:09

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