Lebst Du noch?

Vom Fahren: Wenn Du diese Frage hörst, beginnt Dein neues Leben

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Am heißesten Sommertag des vergangenen Jahres platzt der Reifen hinten links..... mit hundertzwanzig Stundenkilometern rauscht der kleine Wagen spitz blechkrachend gegen die linke Leitplanke.... wirbelt auf heulenden Reifen als Schleudergeschoss quer über die dichtbefahrene Autobahn: Trifft das Plankenblech der andere Seite überschlägt sich dreht rutscht auf dem Dach bis die Geschwindigkeit restlos in Blechzerspanung, Verformung und Reibungswärme umgesetzt ist, verendet an der rechten Leitplanke..... hier erfüllt sich der Lebenszyklus meines letzten Opels, dem ich vor einem Jahr einen Blog widmete...... fünf junge Damen klettern nahezu unverletzt aus dem bös verbeulten Wrack und suchen schockgeschreckt die Erde wieder zu finden, so auch die überwältigte Fahrerin, die erst seit wenigen Wochen ihren Führerschein spazieren fahren darf (.....übrigens glaube ich nicht an Engel).

Im Unfallschock ist man nicht gesellschaftsfähig, also überlassen wir die fünf glücklich Überlebenden der Autobahnpolizei und den diensteifrigen Krankenwagen.... übermütige Volten treibt das Leben, die Erinnerung springt zurück in mein zwanzigstes Jahr, als ich den ersten Opel aufgeben musste in der Nacht zum Neuen Jahr 19??:

Das Herz dieser Nacht soll ganz allein uns beiden gehören: beschwingt mit meiner Liebsten nach dem ersten Sekt brechen wir noch vor Mitternacht aus dem kamingeheizten Häuschen der Freunde bei Pinneberg auf, um rechtzeitig mit dem Feuerwerk über dem Hamburger Hafen auf das Neue Jahr anzustoßen, zwei Gläser und eine eisgekühlte Bouteille liegen hinten im Wagen....... die Luft ist frostig, ein feiner, weißer Schneefilm hat sich über die nächtliche Landschaft gelegt wie ein festliches Tafeltuch.... vierspurig die Bundesstrasse über unbestimmte Steppen zwischen Einfamilienhäusern und Baumschulen, zuerst fahre ich fünfzig, dann sechzig........ ganz sanft wie vom kalten Wind umarmt treibt der leichte Opel Kadett gegen den rechten Fahrbahnrand, kaum zu merken die Neigung der glatten Fahrbahndecke, vergeblich das sachte Gegensteuern, nutzlos das Werk von Kupplung und Bremse, grifflos die glänzenden Reifen...... gleiten ungebremst über den Rasenstreifen spitzwinklig taucht die Wagenfront tief in den Straßengraben... krachend der Aufschlag! ...Glas knirscht und Blech.... geworfen wie von einer Riesenfaust dann der Überschlag..... Schleifen und Scharren... dumpf dröhnt das Blechdach am Ende des Sturzes in ein tödliches Schweigen........ : Lebst Du noch? forscht zaghaft ihre Stimme nach einer kleinen, dunklen Ewigkeit (.... übrigens glaube ich nicht an Engel).

Gleich wird das Auto in Flammen aufgehen, das weiß man aus dem Filmen..... wir aber hängen quer in den Gurten, hinter den Scheiben vorn und an der Beifahrerseite ballt sich gepresster Schnee, Eis, Schlamm und tote Vegetation der Grabenböschung, ich versuche die Fahrertür nach oben zu drücken, um aus der Falle einen Ausgang zu öffnen.... bald stehen wir verwirrt draußen im Freien, wo andere Fahrzeuge gehalten haben um uns zu helfen..... jemand ruft die Polizei. Es ist dreiundzwanzig Uhr dreißig.

Das Kühlwasser tropft, zischt und dampft, aber der Wagen brennt nicht. Ich klettere noch mal kurz hinein um Gläser und Buddel zu holen, alles ist unversehrt (.... übrigens glaube ich nicht an Engel).

Die uniformierten Ordnungskräfte kommt mit einem Kleinbus, in gemütlicher Wärme sitzen wir auf einer Bank am Tisch und geben den Unfallhergang zu Protokoll, beantworten die obligatorische Alkoholfrage nicht wahrheitsgemäß, pusten müssen wir glücklicherweise nicht, außer einem schmerzenden Nacken sind keine körperlichen Malaisen zu beklagen. Um zwölf ist der gekühlte Proviant entkorkt, ...trocken!, sogar Gläser finden sich, wir stoßen mit den beiden Amtspersonen an: ...auch weiterhin einen Guten Rutsch! Feuerwerksraketen steigen rings um uns über die flach geneigten Dächer der niedrigen Siedlungen...

Die Sprecher im Polizeifunk werden lebhaft, ...Sprengkörper, ...Schusswunden, .....alkoholisierte Personen, dazwischen Krächzen und Knacken, wir warten lange auf den Abschleppwagen, dann müssen unsere freundlichen Trinkgenossen in die gefährlichen Abenteuer der Neujahrsnacht aufbrechen.

Jetzt erst fällt mir auf, dass noch ein Fahrzeug neben der Strasse steht, vielleicht zwanzig Meter entfernt. Ob er seit dem Unfall dort wartet, könnte ich nicht sagen....... der Fahrer steigt erst aus, als der Polizeibus verschwunden ist und der wortkarge Meister des Abschlepphakens versucht, meinen gekenterten Opel Kadett auf die Straße zu ziehen. Zweimal reißt das Blech, das Wrack rutscht wieder vom Haken, die Karosserie ruiniert sich zusehends in phantasievoll verknitterte Blechfalten. Der Fahrer des anderen Fahrzeugs bietet an, uns nach hause zu fahren (.... übrigens glaube ich nicht an Engel).

Ach, wie schön wäre es, wenn die Erdanziehungskraft in der Neujahrsnacht für einen Sekundenbruchteil gezielt aussetzen könnte, damit alles Falsche, Überflüssige und Hässliche in das leere schwarze All geschleudert würde..... Lebst Du noch? Ein Unfall kann Gesundheit und Leben zerstören, ist aber die gefährliche Klippe mit tragbaren Blessuren überwunden, stellt sich leise ein wohliges Hintergrundgefühl ein.... endet nicht jedes Jahr mit einem Totalschaden? Nur so kann ein neues beginnen...

Eine Stunde später sitzen wir zu dritt in der Wohnung, haben noch eine Flasche Wein gefunden, machen unserem späten Gast auch einen Kaffee. Etwas besorgt bin ich, dass mein Versicherungsbeitrag jetzt steigen wird, die Einstufung ist schon hoch, weil ich erst seit einem Jahr fahre. Unser Gast bietet beiläufig an, dass er bei Bedarf eine preiswerte Assekuranz vermitteln könne.... beim Abschied lässt er mir seine Telefonnummer da, für alle Fälle.

Ich habe es dann probiert: Zehn Tage später habe ich ihn angerufen, die Prämie war konkurrenzlos preiswert, und noch viele Jahre lang war ich als „Schausteller“ eingestuft.....

An Engel glaube ich nicht, aber ich setze fest, ganz fest auf die Unsterblichkeit der Jugend.



Hier endet der 135. Eintrag: Dieser Blog mischt Fiktion und Realität. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind zufällig und in der historischen Überlieferung nicht verbürgt. Ich bin nur der Navigator, mein Name sei NEMO:

Ich schreibe um unser Leben. Bitte bleib dran.


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Geschrieben von

archinaut

Ein Blick weitet den Horizont: Dieser Blog zieht um die deutschen Häuser

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