Die große therapeutische Erzählung

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Depression ist eine Erkrankung. Zur Volkskrankheit jedoch wurde sie gemacht. Ein Buch hinterfragt unser aller Seelengeschichte

Fast ein jeder erinnert sich an Randall Patrick McMurphy, diesen gewitzten

Simulanten, der in „Einer flog übers Kuckucksnest“ der Mehrheit einen Eindruck von den Zuständen in einer Nervenheilanstalt vermittelte. Gott sei es gedankt, sagten die Zuschauer jenes Filmes, dass ich nicht verrückt bin wie die da. Milos Formans preisgekrönter Film kam 1975 in die Kinos. Das ist lange her.

Heute erinnern die psychiatrischen Stationen in den Krankenhäusern nicht mehr im Entfernten an jene bizarren Filmkulissen vor 35 Jahren. Auch der soziale Umgang mit seelischen Erkrankungen hat sich geändert. Das hat zweifelsohne sein Gutes, denkt man an die Tatsache, dass jemand, der sich wegen einer psychischen Erkrankung in ärztliche Behandlung begibt, von Freunden und Arbeitskollegen meistens nicht von vornherein mit dem Kainsmal des „Verrückten“ versehen wird.

Allerdings: Erkrankungen der Seele scheinen auf dem Vormarsch zu sein. Das mag an der neuen Offenheit im Umgang mit ihnen zu tun haben. Nur woher kommt das? Sind wir liberaler geworden, sind wir den Irrungen und Wirrungen unseres Ichs heute stärker ausgeliefert als unsere Eltern und Großeltern?

Eine – seine – Antwort auf diese Frage gibt Konstantin Ingenkamp in seinem im Februar dieses Jahres erscheinenden Buch „Depression und Gesellschaft. Zur Erfindung einer Volkskrankheit“. Seine These: Die so genannte Volkskrankheit Depression ist das Ergebnis einer großen therapeutischen Erzählung. Ihre Anfänge liegen in der protestantischen Erweckungsbewegung des 19. Jahrhunderts, den entscheidenden Beitrag aber lieferten Gesundheitsideologen seit Mitte der 1960er Jahre.

Konstantin Ingenkamp (46) arbeitet als Sozialarbeiter und promovierter Soziologe seit elf Jahren in einer Selbsthilfekontaktstelle im Friedrichshain. Anstoß für sein Buch gab die Beobachtung, dass sich im Jahr 2000 zehn Selbsthilfegruppen in Berliner Kontaktstellen unter dem Thema „Depression“ zusammenfanden, es 2011 aber 114 waren. Die allgemein gängige Definition – Depression ist die Summe ihrer Symptome – mag entscheidend für diesen Ansturm sein. Damit, so Ingenkamp, ist ein sich aus weitender Depressionsbegriff vorprogrammiert. In diesem Umfeld ist es sicher kein Zufall, polemisiert er weiter, dass seither die Antidepressiva in vielerlei Facetten ihren endgültigen Siegeszug in Apotheken und Psychiatrien angetreten haben.

Konstantin Ingenkamp hat keinen küchenpsychologischen Ratgeber vorgelegt sondern ein Fachbuch. Das sollte man wissen, wenn man zu seinem 370 Seiten starken Buch greift. Wer aber an nach-und hinterfragender Argumentation zum Thema seelischer Erkrankungen interessiert ist kommt auf seine Kosten. Nicht zuletzt die überraschenden, sehr ausführlichen Abhandlungen zur Historie der Depressionen und ihrer Protagonisten machen das Buch lesenswert.

Nach der Lektüre bleibt der Gedanke, dass eine echte, klinische Depression, bei der man mit steinverhärteter Seele morgens nicht mal mehr den Kühlschrank aufbekommt, um sich eine Scheibe Käse zu nehmen, und es daher beim trockenen Toast belässt, doch etwas anderes, ganz anderes ist als der Spruch: Ich glaube, ich habe Depressionen.

Ab Februar im Buchhandel

Konstantin Ingenkamp: Depression und Gesellschaft – Zur Erfindung einer Volkskrankheit. Transcript Verlag Bielefeld 2012. 370 Seiten. 29,80 Euro.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Constantin Rhon

Realist mit liberaler Grundhaltung.

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