Morgenröte ohne Klischees

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Miguel Gomes' neuer Film "Tabu" bewegt sich zwischen entrückter Narration, Stummfilmhommage und ernsthaften Kolonialdiskursen. Es ist ein beeindruckender Film der Berlinale, der sich gegen eindeutige Eindordnungen sträubt

Primeira Parte: Paraíso perdido (Part 1: Lost paradise). So beginnt Miguel Gomes dritter portugiesischer Langfilm, mit dem er dieses Jahr erstmals auf der Berlinale vertreten ist. In wunderschönen, entrückten Schwarzweiß-Bildern und einer Ruhe, die man im Kino nur noch selten erlebt, verweilt die Kamera bei ihren Protagonistinnen und zeichnet präzise Bilder voller Melancholie und Einsamkeit. Die Figuren aus dem Lissaboner Milieu des gehobenen Mittelstand sind mehr oder weniger in ihrer Einsamkeit gefangen und versuchen beständig, ihre Ängste und Sehnsüchte auf andere zu projizieren; meine Tochter hat mir ein Taschentuch aus Kanada geschickt, damit sie mich nicht vergisst, sagt Aurora, die greise Protagonistin des Films. In Wahrheit ist es aber ihre Tochter, die in Kanada lebt und die alte Dame mit runzligem Gesicht und wachen Augen weder besucht und noch allzu viel an sie zu denken scheint.

Die Greisin flüchtet sich in absurde Träume und ruinöse Casino-Ausflüge. Pilar (Teresa Madruga), ihre gutherzige Nachbarin, versucht Aurora vor ihrer Verwirrtheit durch Gebete und regelmäßige Besuche zu beschützen. Das jenseitige Gute findet sich jedoch lediglich in dem geistigen Glauben daran. Santa (Isabel Cardoso), die kapverdische Bedienstete Auroras, wird von der alten Dame gar als Hexe, als Teufelsabgesandte bezichtigt und trägt mit ihrem (zurecht) bis zur Gleichgültigkeit erstarrten Gesichtsausdruck nicht eben zur Heiterkeit bei.

Bruch der Melancholie

Trotzdem schafft es Miguel Gomes immer wieder, durch kleine Absurditäten die Melancholie zu durchbrechen – ein Krokodil und behaarte, bissige Affen in Auroras Erzählungen, merkwürdige Sprechgesänge auf einer Demonstration gegen die Uno, ein gescheiterter Künstlerfreund Pilars, der im Kino schnarcht, während ihr die Tränen die Wangen hinabfließen. Es sind diese fast märchenhaften Exkurse, die das sonst eher klassische Erzählkino Gomes immer wieder durchbrechen. Bereits in seinem letzten Film "Aquele Querido Mês De Agosto" spielte Gomes exzessiv mit der Grenzauflösung von Narration zwischen Dokumentation und Fiktivität.

Der frühere Filmkritiker scheint sich auch bei der Produktion seiner Filme immer bereitwillig den Zufällen zu ergeben (die nebenbei bemerkt, in seinem letzten Film auch seinem stark begrenzten Budget geschuldet waren). Ursprünglich hatte Gomes „Aurora“ als Filmtitel vorgesehen. Allerdings kam Chrsiti Puiu dem Lissaboner Cineasten zuvor und erkor bereits 2010 denselben Namen zum Titel seiner rumänische Produktion.

Ein Krokodil als schicksalsbestimmendes Element

Gomes taufte seinen Film daher kurzerhand in Tabu um. Der Name entstammt dem Monte Tabu des Films, einem Berg der an die Bedeutung des Hanging Rock aus Weirs "Picknick am Valentinstag" erinnert. Moral und Naturgewalt sind hier seltsam verknüpft. Dass der Film durch die Umbenennung möglicherweise eine Bedeutungsverschiebung erhält, gehört zu den Zufällen, die Gomes Filme niemals nach durchstrukturiertem Hollywoodkino aussehen lassen. Um gebrochene Tabus geht es dann auch maßgeblich in der zweiten Hälfte des Film, die durch Auroras plötzlichen Tod eingeleitet wird.

Segunda parte: Paraíso (Part 2: Paradise). Eine Rückblende versetzt den Zuschauer in das kolonialisierte Afrika Mitte des vorherigen Jahrhunderts, in dem Aurora als junge Frau (bildhübsch: Ana Moreira) eine fatale Liaison mit ihrem Nachbarn Gian Luca Ventura beginnt (Carloto Cotta, der dem Aussehen nach stark an den jungen Johnny Depp erinnert) und tödlich endet. Das Tempo der Erzählung erhöht sich, doch die Themen wiederholen sich: Nachbarschaft, Einsamkeit, ein Krokodil als schicksalsbestimmendes Element.

Existenzieller Abgesang

Wie nebenbei gelingen Gomes fantastisch eingesetzte Kunstgriffe, die als Hommagen an den Stummfilm und Musikfilm gelesen werden können. Der Sound der Dialoge wird ersetzt durch die Hintergrundgeräusche: ein Stein der ins Wasser fällt, Vögelgezwitscher, ein Pistolenschuss, während die Figuren sich lieben, streiten, verzweifeln. Dazu kommen zentral eingesetzte musikalische Elemente, bedeutungsschwangere Songs, die verführerisch anrührend wirken. Der koloniale Diskurs wird nur scheinbar nebenbei mit der Liebeserzählung verknüpft. Während die exklusive europäische Gesellschaft sich am Pool verlustiert und Limonada schlürft, lässt sie sich von der afrikanischen Bedienstetenschar in unangenehm clownesker Butlerkleidung bedienen. Und das portugiesische Todesopfer am Ende der Erzählung wird in einer Radionachricht zum Aufhänger der beginnenden afrikanischen Unabhängigkeitskämpfe.

Aurora bedeutet auf portugiesisch Morgenröte und spielt mit Schicksal der Protagonistin; der Blüte ihres Lebens, ihrer großen Liebe, ist bereits ihr existenzieller Abgesang und ihre Einsamkeit bis zu ihrem Lebensabend inhärent. Fernab davon Klischees zu bedienen, erwecken Gomes nüchterne und zugleich anrührende Bilder eine Vielzahl von Verknüpfungen zu verschiedenen Metadiskursen; sie sprechen von Film und Musik aber auch lebensweltlichen und politischen Bedeutungen wie Kolonialisierung, Tod und Zufall. Gomes Film ist nicht leicht einzuordnen und genau deshalb gleichzeitig eine fantastische Art, Geschichten zwischen Fiktion und irgendeiner Art von Wahrheit zu erzählen.

Tabu wurde auf der Berlinale mit dem Alfred-Bauer-Preis ausgezeichnet.

Written and Directed by: Miguel Gomes, Producers: Luís Urbano and Sandro Aguilar , A production of: O Som e a Fúria, Komplizen Film, Gullane, Shellac Sud

With the support by: ICA, IP, ANCINE – Agência Nacional para o Cinema (Brazil) and Filmförderung Hamburg Schleswig-Holstein (Germany)
With the participation of CNC - Centre national du cinéma et de l'image animée (France)
Produced with support of Ibermedia
Developed with the MEDIA Programme of the European Community
and participation of ZDF/ARTE and RTP

110 Min.

Eine Vielzahl von Miguel Gomes Filmen (insbesondere Kurzfilme), sind für kleines Geld in der Online-Videothek mubi zu sehen.

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Geschrieben von

Juliane Löffler

Onlinerin beim Freitag. Quelle: Papier

Juliane Löffler

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