Tag 5

Berlinale-Tagebuch ..

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http://28.media.tumblr.com/tumblr_lzca3ss69i1qc4abzo1_500.jpgEs ist schon hell draußen, aber viel zu früh. Bis ich im Hyatt am Presse-Ticket-Schalter ankomme, höre ich More than this in Dauerschleife. Das einzige Lied, das mich zurzeit sowohl beruhigt als auch glücklich macht. Um kurz vor neun sitze ich oben im Berlinale Palast direkt an der Brüstung. Die Sicht ist hier viel besser als unten und endlich kann ich ganz rowdiemäßig die Füße auf dem Geländer vor mir abstellen. Wären wir in der Bahn, käme gewiss ein Opi daher, der versuchte, mich mit 'Junge Dame, das gehört sich aber nicht!' zu maßregeln.

L'enfant d'en haut von Ursula Meier spielt in der französischen Schweiz. Der 12-jährige Simon lebt mit seiner Schwester in einem Hochhaus und fährt tagsüber hinauf auf den Berg, um Ski und Ausrüstung der Reichen zu stehlen, die er später verkauft. So verdient er den Lebensunterhalt für sich und seine Schwester, die Eltern sind offenbar bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen.

Simon ist diszipliniert, strukturiert und mir sofort symphatisch. Seine Schwester hingegen hat ständig wechselnde Männer, mal verschwindet sie für mehrere Tage – sogar über Weihnachten. Simon kennt zwar alle Kinder aus der Gegend, aber eigentlich ist er allein. Wie einsam er sich fühlt, merkt man besonders, als er in einem Bergrestaurant eine gut aussehende, reiche Mutter und ihre Kinder kennenlernt. Man spürt sofort, dass er gerne Teil dieser Familie wäre – und ich denke, dass die tolle Frau ein wenig aussieht wie Scully aus Akte X.
Ein Mal fragt er seine Schwester, ob er sich zu ihr ins Bett legen darf und erst als er ihr Geld dafür angeboten hat und sie den Preis bis auf 200 Franken hinaufgetrieben hat, lässt sie ihn zu sich und selbst dann muss er sie noch fragen, ob sie ihn in den Arm nimmt.


Die beiden haben vertauschte Rollen: er bringt das Geld nach Hause, er fragt sie, um wie viel Uhr sie wiederkommt, wenn sie ausgeht, er sagt ihr, sie soll sich eine neue Jeans kaufen, er kümmert sich um die Wäsche, um die Einkäufe, um das Essen, er trägt gemeinsam mit den anderen Kindern seine Schwester nach Hause, als diese vom Alkohol bewusstlos auf der Wiese vorm Hochhaus liegt. Als sie einen Geliebten mit nach Hause bringt, greift er zur Zigarettenschachtel und bricht sich pragmatisch zwei Filter ab, um sie wie Oropax zu verwenden und während die beiden mit dem Freund der Schwester im Auto herumfahren, sagt Simon etwas, das den ganze Blick auf das Verhältnis der beiden verschiebt.

Ein paar Monate später, als gerade die Saisonarbeiter abreisen, bleibt Simon einfach oben auf dem Berg, obwohl die Seilbahn nachmittags bereits abgestellt wird. Noch ist es hell und er schaukelt vor der wundervollen Alpenkulisse auf einem Liftbügel, sitzt gelangweilt alleine in einem Sessellift oder kullert den Berg im schmelzenden Schnee hinab. Bis es dunkel wird und er weinend und frierend die Nacht draußen verbringen muss. Ich möchte sofort in die Schweiz ziehen, Simon adoptieren und in den Arm nehmen, wann immer er möchte!

Ich war schon sehr oft dort zum Skifahren. Eine eigenartige Welt, in der alle teure Sportgeräte und -kleidungsstücke besitzen. Die Lebensmittel sind sehr teuer, alle Menschen wirken gut gelaunt, haben eine sportliche Frische in den Gesichtern, wenn sie in raschelnden Skianzügen umherlaufen oder -sitzen, wenn Sie mit den schweren Skistiefeln behäbig umherstolpern. Ich kann mich nicht erinnern, dass ich dort je jemanden wahrnahm, der arm zu sein schien und auch Simon gelingt es, dort oben auf dem Berg so zu tun, als sei er einer von jenen, zu denen auch ich gehöre – dabei kann er nicht einmal Skifahren.

Der Film läuft im Wettbewerb. Ich hätte gerne, dass er einen Bären gewinnt. Wenigstens bronze. Aber ich ahne, dass daraus nichts wird.
(PS: Dank Abspann weiß ich, dass die gutaussehende Frau im Bergrestaurant tatsächlich Gillian Anderson ist. Wie schön!)

Nach einer kurzen Pause bin ich schon wieder im Berlinale Palast. Billy Bob Thorntons Jayne Manfield's Car skizziert eine Südstaatenfamilie Ende der Sechziger Jahre. Wenn man amerikanische Army-Verabeitungsgeschichten mag, dann gefällt der Film vielleicht. Mir war die Schrägheit der Familie ein wenig zu dick aufgetragen und ich fand das den Film dominierende Kriegs-Blabla (Wer hat wo mehr gekämpft? Wer war warum tapferer, mutiger? Wer hat versagt? Warum sollte man gar nicht in solchen Kategorien denken? Hippies sind doof! Hippies sind toll!) total uninteressant. Ich mag einfach lieber andere Probleme bewältigt sehen. Aber: schöne Ausstattung, schön gefilmt, gut gespielt. Und Kevin Bacon hat wirklich eine tolle tiefe Stimme!

Anschließend sitze ich zehn Minuten lang in der ersten Reihe im Pressekonferenzsaal und warte auf Billy Bob Thornton. Ich wollte hier schließlich Hollywoodstars sehen! Stattdessen bleibt es beim Blick auf das Papierschild, das Thorntons Platz ausweist und einem auf Anke Engelke, denn ich muss zum Shuttlebus, der uns ins Haus der Kulturen der Welt bringt, wo das Jugendfilmfestival der Berlinale stattfindet und gleich Joven & Alocada der Chilenin Marialy Rivas gezeigt wird. Schlecht gelaunt verlasse ich meinen Platz.

Der Film erzählt die Geschichte der 17-jährigen Daniela, die in einer streng protestantischen Familie aufwächst und in deren Leben sich dennoch alles um Sex dreht. Unter dem Nickname jung&wild vertraut sie ihre Gedanken einem Blog an. Wir erfahren von der Strenge, die ihr in ihrer tief gläubigen Familie widerfährt und ihren Gedanken über Sexualität. Noch nie zuvor sah ich, wie ein Blog tatsächlich zum Film wurde. Dieser ist aufgeteilt in Kapitel, die zudem immer wieder von einzelnen aus dem Off gesprochenen, tagebuchartigen Fragmenten und Experimenten zersetzt werden. Außerdem sehen wir ab und an sogar die Kommentatoren des Blogs, wie sie vor ihren Rechnern sitzen und ihre Meinung unter die Beiträgen posten, was wiederum ähnlich wie Bildschirmtext über die Filmsequenz gelegt wird. Dazu gibt es Animationen – meist sexueller Natur – und auch sonst erstaunlich viel Sex. Dass ausgerechnet auf dem Jugendfilmfest erigierte Penisse gezeigt werden, hätte ich nicht gedacht.

http://25.media.tumblr.com/tumblr_lzckir42qS1qc4abzo1_500.jpgAls die Regisseurin beim anschließenden Q&A darauf angesprochen wird, wie sich das Problem mit der Zensur wohl auf den Verkauf des Films auswirken mag, lacht sie. Es sei doch sonderbar, dass Jugendliche immer wieder so viel Gewalt zu sehen bekommen und sich niemand daran stört, obwohl wir doch hoffentlich alle keine Gewalt ausüben, und dass bei der Darstellung von Sex alle immer irritiert und empört wären, wir aber doch hoffentlich alle Sex haben.
Das Publikum lacht.

Allerdings vermute ich, dass es wirklich schwierig werden wird, Verleiher für den Film zu finden. Dabei war er großartig und ein Festival-Highlight. Alicia Rodríguez, die Darstellerin von Daniela ist ebenfalls anwesend und man mag ihr begeistert Kusshände zuwerfen, weil man sich währen des Films in ihr Gesicht verliebt hat, in ihr Spiel und man glauben möchte, dass sie wirklich young&wild ist.

Zurück am Potsdamer Platz lümmeln wir bereits eine Dreiviertelstunde vor Beginn von Jason Reitmans Young Adult in den Kinosesseln herum und ruhen uns aus. Der Lieblingsfreund sitzt neben mir und liest, ich habe die Kopfhörer aufgesetzt, höre More Than This in Dauerschleife und versuche, ein wenig zu schlafen.
Stattdessen passiert etwas Eigenartiges: Trotz oder vielleicht ja wegen der heutigen Übermüdung und gleich zwei großartigen Filmen sowie dem vielen überdrehten Spaß, den wir zwischen den Vorstellungen hatten, erfahre ich wohl so eine Art Berlinale-High. Alles ist Flausch, ich fange mit geschlossenen Augen an zu lächeln, meine Mundwinkeln gehen immer weiter nach oben, bis ich kurz sogar lache.

Deshalb ist es völlig egal, dass ich später, als wir auf dem Nachhauseweg im 200er-Bus sitzen, den Film, obwohl er irgendwie unterhaltsam war, schon wieder vergessen habe. Stattdessen denke ich an Simon und Daniela.
Halbzeit.

Gesichtete Promis: Ich werde diese Rubrik jetzt abschaffen, denn ch komme mir albern vor, wenn ich hier Anke Engelke oder Menschen hinschreibe, mit denen ich beruflich schon zu tun hatte.

Filmplaner für morgen (das schon heute ist):
Was bleibt von Christian Schmid
The Iron Lady von Phyllida Lloyd
Rentaneko von Naoko Ogigami

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Geschrieben von

Maike Hank

Die Eulen sind nicht, was sie scheinen.

Maike Hank

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