Vom Zufall über die Schrift zum Klang

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Gestern habe ich den Höreindruck beschrieben, den Cages simultan dargebotene Werke 103 für Orchester (1991) und One11 (der Film von 1992) auf mich machten. Heute wollen wir von seiner Arbeitsweise sprechen. "Zufallsoperationen wurden benutzt für die Kameraeinstellungen, schwarz und weiß", sagt Cage über den Film. Und vom Orchesterwerk: "Nach der Entscheidung durch Zufallsoperationen wechselt die Zahl der Blasinstrumente in jedem der siebzehn Teile." Warum tut er das? Er erklärt es selbst: "103 ist nicht Ausdruck von Gefühlen oder Gedanken, die ich damit verbinde. Ich wollte die Klänge von meinen Absichten frei halten, so dass sie nichts als Klang sind, das heißt, sie selbst." (zitiert aus dem Programmheft der MaerzMusik)

Die Geschichte seines Komponierens könnte als Geschichte wechselnder Methoden der Zufallsgenerierung beschrieben werden. So gab es eine Phase, wo er schrecklich viel Zeit mit dem Münzenwurf zubringen musste, um alle Parameter einer Komposition bestimmen zu können, und in seiner Not auch Freunde bat, ihm zu helfen. Er war erleichtert, als es möglich wurde, einen Computer mit der Aufgabe zu betrauen. Was es aber überhaupt heißt, den Zufall zu wollen, wird in einer Verfahrensweise deutlich, die man immer wieder zitiert findet (wie hier im Programmheft):

"Indem er den Blick über unbeschriebenes, weißes Papier wandern ließ, entdeckte er eine seiner radikalsten Lösungen: 'Plötzlich sah ich, dass die Noten, alle Noten, bereits da standen.' [...] Cage hatte kleine Unregelmäßigkeiten, Erhebungen oder winzige Flecken auf der Oberflächenstruktur des Papierbogens entdeckt, vollkommen regellos verteilt. Innerhalb eines vorgewählten Zeitintervalls markierte er nun mit Tinte so viele dieser Unregelmäßigkeiten, wie er erkennen konnte. Er erhielt so die absolut zufällige Konstellation eines Punktefeldes. Darüber legte er dann ein transparentes Notenpapier, um die Punkte [...] als exakte Tonhöhen zu bestimmen. Per Zufallsverfahren wurde jedem der so gefundenen Töne schließlich ein dynamischer Wert zwischen Pianissimo und Fortissimo sowie gegebenenfalls ein Vorzeichen zugeordnet. Auf diese Weise entstand 1952 die Music for Piano 1". Bei der Music for Piano 2 (1953) "kann der Interpret das Tempo frei bestimmen. Das rechte Pedal soll ständig getreten bleiben, und während jetzt durch Zufallsbefragung festgelegt ist, ob die einzelnen Töne normal gespielt, gedämpft oder durch Zupfen der Saite zum Klingen gebracht werden sollen, bleibt dem Spieler die freie Entscheidung der dynamischen Gestaltung."

Diesem Verfahren ist ein anderes, später eingesetztes sehr ähnlich: transparentes Notenpapier statt über die markierten Unregelmäßigkeiten des Papierblatts über eine Sternkarte zu legen. In diesem Fall wird die "absolut zufällige Konstellation eines Punktefeldes" aus Sternen gewonnen, wie es die Etymologie des Worts "Konstellation" ja nahelegt; so ist 1974/75 der Klavierzyklus Etudes Australes entstanden. Die Music for Piano 1 bis 84 konnte man sich am Sonntag nachmittag anhören, dargeboten von Sabine Liebner. Was war hier der Höreindruck? Wahrscheinlich scheiden sich die Geister. Ich würde sagen: langweilig. Cage geht sparsam mit Tönen um. Es ist zwar ein Genuss, dem Klang einzelner Töne, dargeboten von einer guten Pianistin, konzentriert zuzuhören, wie man es sonst nicht tut; auf die Dauer wird es aber eintönig. So frage ich mich, warum ich 103 für Orchester, das in der Grunddimension auch ziemlich monoton ist, nicht auch langweilig gefunden habe. Wohl einfach, weil dort viele Instrumente beteiligt sind und aus ihrem Zusammenspiel sehr komplexe Klänge entstehen? Das Zufallsverfahren führt dort dazu, dass die Komplexität im Sekundentakt die Farbe wechselt. So ist das Ohr des Rezipienten beschäftigt. Beim geringen Ton- und auch Klangvorrat der Music for Piano fühlt es sich unterfordert.

Aber dafür zeigt sich hier in reiner Form, was das Zufallsverfahren eigentlich anrichtet. Es geht gar nicht so sehr darum, ob jemand diese Musik langweilig, amüsant oder tiefsinnig findet: Entscheidend ist, dass sie dem Rezipienten seine Abhängigkeit von den Tönen, ich möchte fast sagen seine Gedrilltheit durch sie vor Augen (oder vielmehr ins Ohr) führt. Die Töne sind einmal da, du musst sie nehmen, wie sie sind. Nur die Pianistin hat manchmal einen Spielraum, das heißt sie darf wenigstens gehorchen, also den Befehl des Zufalls empfangen und e i g e n s t ä n d i g a u s f ü h r e n (man kennt diese Eigenständigkeit: "Bis morgen musst du... Wie du es schaffst, ist deine Sache"). Der Zuhörer jedoch ist in der Position dessen, der eine rätselhafte Inschrift sieht oder sie gar aufgemalt bekommt (um sich nichts Schlimmeres vorzustellen): Er kann nichts tun, auch den Sinn der Inschrift nicht enträtseln, denn sie hat keinen.

Nur eins kann er tun: über die Doppelung der Inschrift nachdenken. Sie ist nämlich Schrift auf dem Notenpapier, die sich in Tönen äußert. Erst werden Noten geschrieben und in ihnen zugeordnete Töne eingeschrieben, dann die Töne ins Ohr. Das ist wie bei jener anderen Sprache, die nicht Noten-, sondern Buchstabenschrift verwendet. Nur dass man von der anzunehmen pflegt, sie äußere sich zuallererst in Tönen (und habe sich geschichtlich so geäußert), um dann nachträglich durch eine sie repräsentierende Schrift ergänzt (oder wenn es sich um das tönende Wort der Toten handelt, ersetzt) zu werden. Bei der Musik ist es gerade umgekehrt. An ihrem Anfang steht die Schrift, die man, wenn sie da ist, zum Tönen bringen kann, und zuletzt gibt es Zuhörer, die mit den Tönen "etwas anzufangen", vielleicht gar sie zu "verstehen" versuchen.

Ist das nur bei der Musik von Cage so? Nein, mindestens bei aller abendländischen Musik der Neuzeit. Bei Cage tritt nur das Erstaunliche so krass hervor. Denn wenn Beethovens Notenschrift erklingt, kann man noch die Vorstellung haben, der Komponist habe zuerst einen sinnvollen Gedanken gedacht, diesem dann Töne zugeordnet, die Töne anschließend schriftlich notiert und die Noten zuletzt den Interpreten übergeben, die sie wieder in Töne zurückverwandeln; der Zuhörer würde am Ende aus den Tönen den Beethovenschen Gedanken rekonstruieren. Die Schrift erscheint hier nur als Vermittlung, von der man abstrahieren kann, denn das Eigentliche wäre der Gedankenaustausch zwischen Beethoven und dem Zuhörer. Aber verhält es sich wirklich so? Oder ist der Zuhörer, gerade als wenn er Cage hört, dem Erklingen einer unentzifferbaren Schrift ausgeliefert? Nur dass er diesmal durch häufiges Hören an bestimmte Gefühle gewöhnt ist, die er gern reproduziert? Wenn es so wäre, müsste sich derselbe Effekt mit Cage erzielen lassen: Man höre ihn häufig, irgendwann stellt sich ein Gefühl ein und womöglich das der Sinnhaftigkeit. Aber damit scheint es nun auch, als hätten Beethoven wie alle Komponisten vor Cage, die nicht wie er ihre Musik aus dem Zufall erzeugten, ein illusionäres Spiel und einen überflüssigen Aufwand betrieben.

Das Allererstaunlichste ist, dass Cages Musik von ihm selbst und seinen Anhängern als freiheitliche, ja anarchistische verstanden wird. Heinz-Klaus Metzger ist ein Beispiel, obwohl er Cages Verfahren gerade von dessen Schriftlichkeit ausgehend interpretiert, was uns nach dem eben Ausgeführten als Widerspruch erscheinen muss. Die Schrift, deren Aufzeichnungsfläche wir sind, die uns also doch etwas aufzwingt, als Medium unserer Freiheit? In der nächsten Notiz will ich es zu verstehen versuchen. Es gibt da bestimmt etwas zu verstehen, auch wenn es nicht die Freiheit sein sollte.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur „Politik“ (Freier Mitarbeiter)

Michael Jäger studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. für poststrukturalistische Philosophie an der Universität Innsbruck inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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