Vor der Explosion

Ägypten In Kairo gibt es nur noch ein Thema: der 30. Juni. Die Opposition und die Islamisten mobilisieren, das Land ist von einer dramatischen sozialen Krise erschüttert
Ein Ägypter mit einem Protestplakat gegen Präsident Mohammed Mursi am Tahrirplatz am 26. Juni
Ein Ägypter mit einem Protestplakat gegen Präsident Mohammed Mursi am Tahrirplatz am 26. Juni

Foto: Gianluigi Guercia/ AFP/ Getty Images

Anlässlich der einjährigen Präsidentschaft des Islamisten Mohammad Mursi werden am kommenden Sonntag in Ägypten die heftigsten Proteste seit Langem erwartet. Die Macht von Mursi wackelt wie noch nie zuvor.

Die Mobilisierungen werden von der Kampagne „Tamarrod“ (Rebell) organisiert. Tamarod ist eine Unterschriftenkampagne gegen die Moslembrüder mit der Forderung nach Neuwahlen des Präsidenten, die nach eigenen Angaben seit Ende April 15 Millionen Unterschriften gesammelt hat. Dieser sensationelle Erfolg geht auf eine immer tiefere Unzufriedenheit mit der islamistischen Regierung zurück.

Kaum ein Tag vergeht ohne Meldungen von Demonstrationen oder Streiks. Während das Oppositionsbündnis der „Nationalen Heilungsfront“ (NSF) in den letzten Monaten an Handlungsfähigkeit verloren hatte, gewann Tamarod eine schier unglaubliche Dynamik. Diese Kampagne wurde von Aktivisten der „Kefaya“-Bewegung (Es Reicht!) gegründet, welche 2004 eine größere politische Oppositionskampagne gegen Mubarak gebildet hatten. Anders als NSF, das von bekannten Figuren und Repräsentanten der alten Opposition gebildet wurde, stützt sich Tamarrod auf die Kreise und Strukturen der revolutionären Jugend und ist von ihrer Kultur geprägt.

Nach dem gigantischen Zuspruch rief die Kampagne bereits vor einigen Wochen zu Massendemonstrationen für den 30. Juni im ganzen Land auf. Nun hat Tamarrod eine bereiteren Koalition von nasseristischen, linken und liberalen Kräften gebildet, welche die Opposition in der kommenden Periode koordinieren soll.

Die Regierung ist nervös

Die Regierung zeigte sich nervös und begann ihrerseits mit Straßenmobilisierungen im Vorfeld des 30. Juni. Am letzten Freitag marschierten zehntausende Islamisten auf dem Tahrirplatz. Die größte salafistische Partei Al Nour weigerte sich aber auf die Straßen zu gehen. Die Moslembrüder suchen bei ihren Mobilisierungen die Kooperation mit radikaleren Kräften wie die Jamaa Islamiya oder jihadistischen Strömungen der Salafisten. Täglich gibt es Berichte von Zusammenstößen der Islamisten und ihren Gegnern. Am Mittwoch gab zwei Tote und dutzende Verletzte bei dem Kämpfen in Manoura in Nile Delta, am Donnerstag wurde nach Angaben der Partei ein Mitglied der Moslembrüder in Zakazik erschossen.

Während seit Mittwoch der Tahrirplatz von Regierungsgegnern besetzt und mit Zelten bewohnt wird, wollen ab Freitag islamistische Kräfte auch mehrere Plätze in Kairo besetzen. Die Situation scheint völlig unberechenbar, es werden schlimme Zusammenstöße erwartet.

Die Mobilisierung gegen die Regierung wird von einer dramatischen Versorgungskrise beflügelt. Ständig gibt es Stromausfälle, es mangelt an Benzin und Gas. An den Tankstellen bilden sich riesige Schlangen, erst nach Stunden des Wartens ist es möglich zu tanken. Neben der Versorgungskrise wird die Sicherheitslage immer schlimmer. Es gibt vermehrt Berichte von Lynchmorden. Am letzten Sonntag attackierte ein von einem salafistischen Scheichs angestachelter Mob eine shiitische Gemeinde im Giza Bezirk von Kairo, 4 Menschen wurden dabei gelyncht.

Die staatlichen Sicherheitsorgane sind weitesgehend paralysiert. Die Polizeisprecher erklärten zunächst, sich von den Protestbezirken fernzuhalten. Dann hieß es wieder, sie werden präsent sein, um Demonstranten und staatliche Gebäude zu schützen. Im desolaten Polizeiapparat gibt es aber eine immer offenere Unzufriedenheit gegenüber der islamistischen Regierung.

Die Armee erklärte sie stünde auf der Seite des ägyptischen Volkes, was bedeutet, dass sie für keine der beiden Lager intervenieren wird. Sollte die Lage außer Kontrolle geraten, deutet vieles auf eine erneute politische Machtübernahme der Armee hin. Große Teile der Bevölkerung scheinen dem angesichts der dramatischen Instabilität nicht abgeneigt zu sein. So haben sogar Teile des Oppositionslagers die Option einer neuen Transformationsphase unter der Führung der Armee ins Gespräch gebracht, um Neuwahlen und einen neuen verfassungsgebenden Prozess zu ermöglichen.

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Geschrieben von

Pedram Shahyar

Blog aus den Metropolen des globalen Aufstandes

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