Vivian Maier und die Kunstwelt

Kunst Können Artefakte, die niemand außer ihrer Schöpferin kennt, Kunst sein?

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Die Bildende Kunst hat jetzt auch ihren Nancarrow. Er heißt Vivian Maier, hat fotografiert und scheint noch um mehrere Größenordnungen autistischer gewesen zu sein als der Pianola-Komponist: Praktisch niemand sah Maiers Fotografien zu ihren Lebzeiten, Dokumentarfilmer John Maloof entdeckte sie zufällig auf einem Flohmarkt. Selbst wenn diese Story erfunden sein sollte (was angesichts der Fülle tatsächlich großartiger Fotografien, die allein im untenstehenden Trailer auftauchen, zumindest einen gewaltigen Aufwand und herausragende Kreativität erfordern würde und deshalb hochgradig unwahrscheinlich erscheint), so wäre sie zumindest gut erfunden:

Die im Vorspann formulierte Frage wirft nicht unbedeutende philosophische Probleme auf: Ganz offenbar verwandelt sich nicht nur eine Kiste Altpapier ratzfatz in eine gnadenlos wertvolle Kunstsammlung, sobald ein einflussreicher Kunstkritiker wie bsp.weise Jerry Saltz hier über Maiers Fotos schreibt "Sie halten ohne weiteres dem Vergleich mit den Großen stand, mit Künstlern wie Cartier-Bresson, Lisette Model, Robert Frank, André Kertesz, Diane Arbus, Richard Avedon, Walker Evans, Gary Winogrand, Richard Avedon und Weegee, an die sie gelegentlich auch erinnert.", auch ein bislang völlig unbekanntes, leicht verhaltensgestörtes New Yorker Kindermädchen wird nun postum in rasender Geschwindigkeit zur Ikone weiblich-selbstbestimmten Künstlertums.

Der jüngst verstorbene us-amerikanische Philosoph Arthur C. Danto erklärte derlei magische Vorgänge in seiner Kunstphilosophie "The Transfiguration of the Commonplace" bereits 1981 so:

Etwas überhaupt als Kunst zu sehen, verlangt nichts weniger als das: eine Atmosphäre der Kunsttheorie, eine Kenntnis der Kunstgeschichte. Kunst ist eine Sache, deren Existenz von Theorien abhängig ist; ohne Kunsttheorien ist schwarze Malfarbe einfach schwarze Malfarbe und nichts anderes. [...] Deshalb ist es ... entscheidend, dass wir das Wesen einer Kunsttheorie verstehen, die etwas so Mächtiges ist, dass sie Objekte aus der realen Welt herausheben kann und zum Bestandteil einer anderen Welt zu machen vermag: einer Kunstwelt, einer Welt interpretierter Dinge. [S. 207f.]

Dantos Thesen lösten in mir stets zwiespältige Gefüle aus: Einerseits erklären sie sehr gut, dass qualitative Bewertungen von Kunst immer eine intersubjektive Übereinkunft einflussreicher Experten voraussetzen. Andererseits erklären sie nicht, wie diese Experten überhaupt zu ihren Qualitätsmaßstäben kommen, geschweige denn, was bsp.weise Jerry Saltz jenseits seiner zweifellosen sozialen Vernetztheit überhaupt zu einem Kunst-Experten macht. Joseph Goebbels hatte (und Kim-Jon un hat) ja auch seine "Qualitätsmaßstäbe", die sich allerdings inkommensurabel zu denen der artworld verhielten (bzw. verhalten). Dantos Theorie lässt also verschwörungstheoretisch geneigten Individuen (also ca. 50% der Menschheit und 95% aller Internet-NutzerInnen, konservativ geschätzt) die Option, die Qualität zeitgenössischer Kunst werde ausschließlich und ohne jeden objektivierbaren Zusammenhang mit der physikalischen Natur der Artefakte von klandestinen Zirkeln dekretiert, die "in Wirklichkeit" ganz andere als kulturelle Ziele verfolgten, also z. B. sich zu bereichern, soziokulturelle Hegemonie anzustreben oder Ähnliches.

Es bedarf also dringend einer Meta-Theorie ästhetischer Qualität, die nicht nur auf intersubjektive Übereinkünfte rekurriert, sondern auch auf objektivierbare Art und Weise zu begründen vermag, was, in der Kunst, "gut" von "gut gemacht" unterscheidet.

Hätten wir diese Theorie bereits, könnten wir die im Vorspann gestellte Frage beherzt mit "Prinzipiell ja!" beantworten...

...was allerdings vermutlich den unbeabsichtigten Nebeneffekt einer metaphysischen Trostwirkung für zahllose narzisstische "verkannte Genies" hätte.

Belassen wir's deshalb für heute mal bei "Keine Ahnung."

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Stefan Hetzel

Bürger, Publizist, Komponist (autonom, aber vernetzt)

Stefan Hetzel

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden