Türkei: Erdogans strategische Tiefe

Neuer Sultan Für Premier Erdogan ist Necip Fazıl Kisakürek ein "herausragender Denker der Türkei". Allerdings ist Kisakürek ein Antisemit, mit Ideen vom islamischen großen Osten.

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Kisakürek sei einer der wichtigsten Denker der Türkei des 20. Jahrhunderts, so Erdogan auf einer Fraktionssitzung seiner Regierungspartei AKP im Mai dieses Jahres. Kisakürek (1904 -1983) sei ihm ein Vorbild.

Die oppositionelle türkische Tageszeitung Yurt kommentierte die Rede Erdoğans als beschämend, weil Kisakürek in seinem Werk "Doğu Yolun Sapık Kollari" ("Die perversen Arme des östlichen Weges") dazu aufgerufen hatte, Aleviten, Jesiden und Drusen wie Brennnesseln auszurupfen. Ausserdem habe Kısakürek in seinem Buch "Yahudilik-Masonluk-Dönmelik" (Judentum, Freimaurerei, Wendehälsigkeit“) antisemitische Thesen verbreitet.

Recep Tayyib Erdogan schrieb unter dem Einfluss Kisaküreks selbst ein antisemitisches Machwerk fürs Theater, inszenierte es selbst und spielte die Hauptrolle. Mehr hier: http://www.freitag.de/autoren/weinsztein/dramatiker-erdogan

Kısakürek hatte in den 40er Jahren die Idee eines "Islamischen Großen Ostens" (İslami Büyük Doğu), wobei mehrere Staaten zu einer großen islamischen Einheit zusammengefasst werden sollen. Erdogans Würdigung Kısaküreks hilft, die neoosmanische Selbstinszenierung des türkischen Premiers zu verstehen. Seine künftige Rolle als Sultan, über die der laizistische Teil der Türkei witzelt.

Kisaküreks Phantasien vom islamischen großen Osten, angeführt von der Türkei, entsprechen der außenpolitischen Ausrichtung der AKP. Außenminister Ahmet Davutoglu hat diese Idee in seinem Konzept der "strategischen Tiefe" aufgegriffen und schon vor Jahren formuliert.

Vorrangig sei, laut Davutoglu, die Festigung der türkischen Position als regionale Führungsmacht, sie zum wichtigen strategischen und unverzichtbaren Akteur in der regionalen und internationalen Politik zu entwickeln sowie als Wirtschafts- und Energiezentrum zu etablieren. Sosoll die Türkei mit politischen, wirtschaftlichen, diplomatischen und kulturellen Mitteln Einfluss in früheren osmanischen Gebieten ausüben, die für die Türkei von strategischem und nationalem Interesse sind und für die die Türkei selbst das Zentrum sei. (Zitiert nach Gülistan Gürbey: http://www.euractiv.de/globales-europa/analysen/die-strategische-tiefe-ein-neues-auenpolitisches-verstandnis-der-trkei-005590 )

Diese Idee hat Europa und den USA lange geschmeckt. Seit Erdogans lautem Kriegsgeschrei gegenüber Syrien weiß man allerdings: auch militärische Optionen kommen für diese türkische Regierung in Frage, zumal unter dem Schutz deutscher Patriot-Batterien, für den Beistandsfall nah genug stationiert an der türkisch-syrischen Grenze. Dann wären Deutschland und die Bundeswehr Kriegspartei im Nahen Osten. Will Angela Merkel das?

Von der strategischen Tiefe soll laut Davutoglu der Westen profitieren. Letzterem, vor allem Bush jr., gefiel zunächst die Strategie einer künftigen Führungsrolle der Türkei im Nahen Osten, dem Land mit der zweitstärksten Nato-Armee, nach den USA. Auch die Rolle der Türkei als "Energiezentrum", so man diesen Begriff wörtlich nimmt. Derzeit muss das Land rund 75 Prozent seines Energiebedarfs importieren. Diesem Dilemma wollen Davutoglu und Erdogan per "tiefer Strategie" abhelfen.

2010 dann wikileaks. Der Spiegel berichtete: "Das Urteil der US-Diplomaten über den Nato-Partner mit der zweitgrößten Bündnis-Armee ist insgesamt verheerend. Die türkische Führung sei zerstritten. Erdogans Berater sowie sein Außenminister Ahmet Davutoglu verstünden wenig von der Politik außerhalb Ankaras. Die Amerikaner sind besorgt über angebliche neoosmanische Visionen Davutoglus. Ein hochrangiger Regierungsbeamter warnte in Gesprächen, aus denen die US-Diplomaten zitieren, Davutoglu würde islamistischen Einfluss auf Erdogan ausüben: 'Er ist besonders gefährlich.'"

Und: "Viele Spitzenkräfte der Regierungspartei AKP seien Mitglieder einer muslimischen Bruderschaft, so die Amerikaner, Erdogan habe islamistische Banker in einflussreiche Positionen gehoben. Er informiere sich fast ausschließlich über Islamisten-nahe Zeitungen. Der Regierungschef, so die US-Depeschen weiter, habe sich mit einem "eisernen Ring von unterwürfigen (aber hochnäsigen) Beratern" umgeben und inszeniere sich als 'Volkstribun von Anatolien'."

aus: http://www.spiegel.de/politik/ausland/kritik-an-erdogan-us-diplomaten-fuerchten-islamistische-tendenzen-in-der-tuerkei-a-731604.html

(Zur "tiefen Strategie", zu Davutoglu, AKP, zu Kisakürek, zu Erdogan, "deniz feneri" usw. kann man googlen.)

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Geschrieben von

weinsztein

Journalist. Lebt vorwiegend an der türkischen Ägäis. Guckt auf griechische Inseln. Kocht gern.

weinsztein

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