Was würde Jarvis tun?

Netz-Optimist In seinem neuen Buch fordert der US-Medienjournalist Jeff Jarvis: Das Private muss politisch und ökonomisch werden
Jarvis als Post-Privacy Verteter: "Was nützlich ist, ist auch gut"
Jarvis als Post-Privacy Verteter: "Was nützlich ist, ist auch gut"

Foto: Andreas Rentz/Getty Images

Die einen werden Internet-Gurus oder Internet-Evangelisten genannt, die anderen Internet-Skeptiker. Sie streiten wie die Kesselflicker um die Frage, ob das Internet nun gut oder böse ist. Der Kampf um die Deutungshoheit wird mit harten Bandagen geführt.

Zu den bekanntesten „Evangelisten“ gehört der New Yorker Journalist und Hochschullehrer Jeff Jarvis, der im Internet das revolutionäre Werkzeug zur Selbstbefreiung der Massen erkennt, während sein Gegenspieler, der an der kalifornischen Stanford-Universität forschende Publizist Evgeny Morozov, das Internet als ideale Waffe der Herrschenden gegen den Freiheitswillen der Bürger identifiziert.

Nun hat Jarvis nach seinem fulminanten Bestseller Was würde Google tun? ein neues Werk vorgelegt, und Morozov hat es mit Furor verrissen. Im Original lautet der Titel Public Parts. How Sharing in the Digital Age Improves the Way We Work and Live. Das deutsche Cover lehnt sich dagegen etwas altbacken an Willy Brandts Regierungsmotto von 1969 an: Mehr Transparenz wagen! Wie Facebook, Twitter & Co die Welt erneuern.

Überflüssige Ängste

Ausgehend von den 95 Thesen des berühmten Cluetrain-Manifests, das als Glaubensbekenntnis der frühen Internet-Industrie gilt („Märkte sind Gespräche“), beschreibt Jarvis zunächst „den Kern einer neuen Industrie, die auf dem Prinzip Sharing beruht“: Das Private soll endlich politisch und ökonomisch werden.

Facebook, YouTube, Twitter, Wikipedia, Flickr, Kickstarter, Trip-Advisor, Foursquare, Blogger, Yelp, Ushahidi, SeeClickFix und all die anderen „sozialen“ Webangebote vernetzen Menschen zu einer neuen, schnell wachsenden Beziehungsökonomie, deren Motor das Gegenseitigkeitsprinzip ist: Hilfst du mir, so helf’ ich dir. Mit Tipps, Ratschlägen, Produkten und Ansprechpartnern.

Dass die Internet-Konzerne, die ihre Austausch- und Kooperations-Plattformen meist kostenlos zur Verfügung stellen, an ihren „Mitgliedern“ beziehungsweise „Kunden“ gut verdienen, ist nach Jarvis der beste Beweis dafür, dass eine riesige Nachfrage, die von der alten Angebotsökonomie nicht bedient wurde, nun professionell und überzeugend befriedigt wird.

Aus Hilfsbereitschaft und Mitteilungsdrang entsteht eine neue Öffentlichkeit, die weit über das hinausgeht, was bisher unter Öffentlichkeit verstanden wurde und meist auf den staatlichen Sektor und die etablierten Medien begrenzt war. Nun kann das Private öffentlich werden, weil „wir“ es so wollen: mit all unseren Eheproblemen, unserem Ärger mit Produkten oder Behörden, den eigenen Krankheiten und den bisher schamvoll verheimlichten Neigungen. Diese Freizügigkeit im Umgang mit der eigenen Person tue den Menschen sichtlich gut, denn sie bekämen in aller Regel etwas zurück.

"Öffentliche Emanzipation"

Jarvis macht sich zum Anwalt und Fürsprecher derjenigen, die mithilfe der sozialen Netzwerke aus sich herausgehen wollen. Und als mutiger Anführer setzt er sich sogleich an die Spitze der Bewegung.

Ausführlich redet er über seine Krebserkrankung, die Operation und die fatalen Folgen für sein Sexualleben. Dabei schmettert er eine Breitseite gegen alle, die die Befreiung des Menschen aus der Vereinzelung, das Überwinden von überflüssigen Ängsten und Schamgefühlen als Exhibitionismus, Aufmerksamkeitshurerei oder „Oversharing“ abtun.

Die Feinde der öffentlichen Emanzipation hat er schnell identifiziert. Es sind die alten Autoritäten: der Staat, die Medien, die Kirche, sowie der von ihnen unterstützte „regulatorisch-industrielle Datenschutzkomplex“. Gerade in Deutschland sei so ein Übermaß an Besorgnis, Kontrolle und Beschränkung entstanden; doch hinter der modernen Datenschutzmaske verberge sich die alte Angst vor neuen Technologien und neuen Zeiten. Mit dieser Argumentation liegt Jarvis ganz auf der Linie sogenannter Post-Privacy-Vertreter, wie etwa der Berliner „Spackeria“.

Der post-private Jarvis hat nichts gegen Nacktscanner an Flughäfen, nichts gegen RFID-Chips in Produkten, nichts gegen Cookies auf Webseiten, nichts gegen die Analyse seines Genoms und nichts gegen Überwachungskameras an öffentlichen Orten. Er will, dass Unternehmen transparent agieren und Produktentwicklungen mit ihren Kunden diskutieren, er will, dass Regierungen ihre Datenbanken ins Netz stellen und mit den Bürgern bei der Lösung von Problemen offen und ehrlich kooperieren.

Für einen Online-Verkaufsraum

Bei Evgeny Morozov, dem 30 Jahre jüngeren Internet-Skeptiker, provozierte Jarvis’ naive Schwärmerei für Staat, Sharing-Industrie und mehr Öffentlichkeit einen unkontrollierten Wutanfall. Seine Schmähkritik bei Erscheinen der amerikanischen Originalausgabe in der FAZ strotzte vor Beleidigungen, Häme und intellektuellem Vernichtungswillen. „Abgeschmackte Thesen“, „schlampige Diskussion“, „intellektuelle Faulheit“ waren noch die geringsten Vorwürfe. Jarvis’ Vorstellungen – „und die seiner Genossen in der Cyberutopischen Internationale“ – seien letztlich nichts anderes als hyperventilierende „Marktpropaganda“ für Mark Zuckerberg & Co.

Weder Jarvis noch Clay Shirky, so Morozov, „wollen sich mit den kulturellen Auswirkungen der politischen Ökonomie des heutigen Web auseinandersetzen. Stattdessen gehen sie stillschweigend davon aus, dass die heutigen Internetunternehmen schon irgendwie harmloser wären als die privatwirtschaftlich kontrollierten Medien, die ihnen vorausgegangen sind.“

Morozovs Wut über die peinlichen „Internetintellektuellen“ ist grandios. Doch trifft sie Jarvis’ jugendliche Netz-Begeisterung ins Herz? Ja und Nein.

Ja, weil sich Jarvis’ überschwängliches Plädoyer für den öffentlichen Raum, den das Werkzeug Internet erschafft, häufig wie das Plädoyer für einen neuen schicken Verkaufsraum liest. Jarvis rät (gegen vier- und fünfstellige Honorare) großen Konzernen, wie sie mithilfe des Internets Geld machen können: Durch die Mitwirkung und das Anzapfen von Kunden etwa ließen sich die Marketing-Kosten erheblich senken.

Als Utilitarist handelt Jarvis dabei stets nach dem Motto: Was nützlich ist, ist auch gut. Mit Recht oder Moral hat das wenig zu tun. So entspricht sein Kleinreden der Privatsphäre und der Datenschutz-Probleme eher der Argumentation der Marketing-Abteilung von Facebook als dem Bericht eines unabhängigen Journalisten.

Kritik und Neid

Auch seine wohlwollende Einschätzung der „techno-humanen“ Ambitionen der Sharing-Industrie fußt in erster Linie auf dem eigenen beispiellosen Erfolg. Der kleine Journalist Jeff Jarvis verdankt dem Internet allen Ruhm, alle Aufmerksamkeit und alles Geld. Sein wohlkalkulierter Schritt in die Öffentlichkeit zeichnet ihn als cleveren Geschäftsmann aus – weniger als Rebellen, der die Befreiung der Massen aus ihrer selbstverschuldeten Privatheit organisiert.

Doch die lautstarke Kritik an Jarvis ist auch ein Kind des Neids. Unvoreingenommen gelesen, ist sein Buch randvoll mit Ideen, interessanten Fallbeispielen und linkem Gedankengut. So formuliert sein Plädoyer für das Teilen und die sozialen Beziehungen, für Offenheit, Kooperation und Empathie, für Nachfrage- statt Angebotsorientierung klassische linke Politik.

Die gesellschaftlichen Folgen der disruptiven Technik Internet erkennt er viel klarer als manche seiner Kritiker. Er formuliert sie nur sozialverträglicher und ohne jeden Alarmismus. Ein Linker, der eingängig schreiben kann, Spaß an technischem Fortschritt und sozialen Utopien hat, sollte nicht gleich der Verachtung anheimfallen.

Jarvis ist, wie er selbst über sich sagt, ein „unheilbarer Optimist“. Sein Menschenbild ist nicht ängstlich, sondern geprägt vom Vertrauen jener Früh-Sozialisten, die fest an ein gutes Ende glaubten, an jene „Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist“ (Marx).

Dass man bei Jarvis trotzdem nie so recht weiß, ob er mit seinen Vorschlägen für eine „radikale Öffentlichkeit“ mehr Demokratie wagen oder doch nur mehr Produkte verkaufen will, ist einem ur-amerikanischen Denken geschuldet: Wahrscheinlich ist das für ihn ein- und dasselbe. Denn Jarvis hält die Kombination von demokratischer Öffentlichkeit und Internet-Kapitalismus für eine Win-Win-Situation.

Mehr Transparenz wagen! Wie Facebook, Twitter & Co die Welt erneuern
Jeff Jarvis, Lutz Wolff (Übersetz.) Quadriga 2012, 320 S., 24,99 €

Wolfgang Michal bloggt unter wolfgangmichal.de

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Geschrieben von

Wolfgang Michal

Journalist; Themen: Umbrüche & Entwicklungen

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