Kontroversen in Platons Höhle

Philosophenstreit Wenn Alain Badiou und Jean-Claude Milner diskutieren, wird es grundsätzlich antik.

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Ein gezieltes Zu Platon habe ich eine Nichtbeziehung bedeutet in der Regel das Ende eines philosophischen Diskurses, vor allem, wenn der Adressat der Pfeilspitze bekennender Platoniker, ja Platonübersetzer ist. Es kann aber auch der Anfang eines wunderbaren Dialoges sein, wenn die Protagonisten Alain Badiou und Jean-Claude Milner heißen, wenn sich also zwei eminente "Inelligences francaises" streiten.

Milner ist Linguist (Chomsky-Übersetzer), philosophischer Antiphilosoph und angeblich ein "nouveau réactionnaire". Badiou, der außerhalb Frankreichs bekanntere, Mathematiker und Anti-Antiphilosoph, zudem Repräsentant der "hypothèse communiste".

Im Sommer 2012 gelang es dem Kulturjournalisten Philippe Petit, die ehemals maoistischen (eh oui!) Genossen nach Jahren der Funkstille zu einer Debattenrunde zu bewegen. Deren Protokoll (1) ist wahrlich keine leichte Lektüre. Die beiden älteren Herren stehen in der Lacan-Althusser-Tradition, was sprachliche Folgen zu zeitigen pflegt. Ihr argumentatives Rüstzeug ist so enorm wie ihre Belesenheit.

Und so wird der Leser mit einer Fülle von Anspielungen konfrontiert, von denen viele wohl nur die beiden Diskutanden verstehen. Manchmal wirken sie wie Philosophen im "antiken Gewande", was nicht erstaunlich ist. Der "Platonismus" Badious ist sprichwörtlich, und auch Milner hat seinen Antiken: Lukrez.

Ich möchte deshalb meinen die inhaltsreichen Diskussionen notwendig reduzierendenBericht mit einem alten Griechen beginnen:

Die Körper der Kranken waren gerötet, von einem dichten Flor von Bläschen und Geschwüren überzogen. Sie litten an schrecklicher Hitze, quälenden Durst, Schlaflosigkeit... Leichen lagen überall herum, Sterbende wälzten sich auf den Straßen, Halbtote belagerten die Brunnen und lechzten nach Wasser. Selbst die Heiligtümer waren voller Toter...

So berichtet Thukydides über die Pest in Athen. Für Milner ein elementarer Text. Für Platon hingegen, so Milner, einen zentralen Begriff Badious aufnehmend, sei die Pest kein Ereignis. Und plötzlich wird er sichtbar, der fundamentale Unterschied. Bisher haben die beiden Philosophen nur "gesprochen": über ihre Motive, in den sechziger Jahren Maoist zu sein und über die Relevanz der Marxschen Kapitalanalyse. Von nun an bestimmt sie die Diskussion: die Frage der Politik.

Milner ist "minimalistisch": Es gebe nur eine fundamentale politische Frage, die nach der Unversehrtheit von Körper und Leben. Pure Ideologie, entgegnet Badiou. Das zeige auch der Thukydidestext über die Pest. Zu Recht habe Platon diese nur sporadisch erwähnt. Die Pest sei ohne jede strukturale politische Pertinenz, eben kein "Ereignis". Da Milner auf diese Provokation eingeht, entwickelt sich ein moderner sokratischer Dialog.

Badiou: Die Frage nach Körper und Leben ist nicht der Kern des Politischen, der im historischen Prozess der kollektiven Korrelation von Freiheit und Gleichheit besteht.

Milner: Es ist typisch für Badiou-Platon, das das Primäre für ihn die politische Idee sei (die Idee der Polis bei den Griechen, die Idee des Kommunismus bei Badiou). Er, Milner, sei im platonischen Sinne in der Tat anti-politisch, in Wirklichkeit aber eminent politisch. Der Leser denkt an Marxens Satz über die Wirklichkeit, die die Idee blamiert.

Badiou: Die Position Milners führt zwangsläufig zum philosophischen Skeptizismus und zum politischen Pragmatismus, zum christliche-sozialdemokratischen Reformismus. Wie politisch Platon sei, zeige seine Kritik an der Tyrannis.

Milner: Als Linguist gehe er von der "Polytique" (Lacan lässt grüßen) der "Etres parlant" (ambivalent: "sprechende Wesen", aber auch "sprechend Seiende"). Jeder könne prinzipiell Jeden am Sprechen (Leben) hindern. Das scheint (!) ein eher schwaches Argument zu sein (vergl. Adornos Heideggerkritik: Ein reines Substrat des Ist kann nicht gedacht werden). Und so kann Badiou maliziös fragen: Wie willst du denn die "Hin derung" verhindern? - Sie regelt sich, antwortet ein in die Enge getriebener Milner. -Also denkst du die Relation! - Nein, die Ko-Präsenz! Darauf erklärt Badiou Milner zum Rousseauisten (Homme naturel): Und nach dem Naturzustand kommt der Vertrag. Milner - in extremis: Er setze in der Tat etwas voraus, was dem Naturzustand analog ist.

Es gebe einen "undurchdringbaren menschlichen Kern" - im Unterschied zu den Dingen. Milner weiß natürlich, dass er damit in der Welt angekommen ist - und dass diese historisch und veränderbar ist. Dieser Debattenteil, den Milner "verloren" zu haben scheint, endet dann auch fast folgerichtig und sehr französisch mit der Moderatorenfrage nach der Solitude (Einsamkeit). Milner (der Atomiker) erklärt, dieser Begriff sei für ihn nicht anwendbar. Badiou geht mehr aus sich heraus und nennt Beispiele : die Solitude des Liebenden, die Einsamkeit des Indifferenten auf dem Trottoir der Revolution. Aber kein "Sinken einsamer Seelen" (von Brentano), sondern Kampf für das Leben und gegen die Pest (Milner), für das bessere Leben der Multitude (Badiou).

Die nächste Diskussionsrunde hat eine konkrete Wahrheit zum Gegenstand. Es geht um nichts weniger als die Tötung von Menschen (Mise à mort) aus politischen Gründen - am Beispiel der Kulturrevolution. Badiou lässt sich tatsächlich dazu hinreißen, die damalige Kritik am Maoismus als "Paradigma der Konterrevolution" zu bezeichnen. Milner bleibt seinem minimalistischen Paradigma treu und sieht in der Kulturrevolution den Beleg, dass ein Volk sich im Namen des Volkes massakrieren kann , zumal - er wendet Badiou dialektisch - gerade die Kulturrevolution den gegenwärtigen Kapitalismus Chinas erst ermöglicht habe. Da muss Badiou zustimmen.


Das große Thema dieser Debattenrunde ist jedoch Milners Konzept des "Nom Juif" (der "Name", der Signifikant Jude). Dazu ein kleiner Exkurs.

2003 hat Milner in einer kontrovers (auch von Badiou) diskutierten Arbeit (2) die These aufgestellt, mit der Aufklärung, die auf ein "unbegrenztes (illimitée) Europa" ziele, sei - wie er lacanistisch formuliert - der Signikant Jude (der nur in der ersten Person möglich sei) ein "pastout" , eine partikulare Grenzbezeichung. Als solche sei er der modernen Gesellschaft als Problem erschienen, welches die Politik zu lösen gehabt habe. Wenn es um den Namen Jude geht, zählt die deutsche Sprache,schrieb er bitter und verweist auf die "Vorbereitenden Maßnahmen zur Endlösung der europäischen Judenfrage "vom 9.10.1942. Die "Frage" ist hier ein Synonym von "Problem" (inklusive Frage). Bis zum ersten Weltkrieg habe die "Lösung" in der Integration der Juden mittels Patriotismus bestanden. Hitler habe dann - la modernité du moderne est la technique - die "Endlösung" geliefert. Erst die "Judenfreiheit", also der Sieg Hitlers, so Milner provokant, habe die Einigung Europas ermöglicht. Die Schaffung des "Judenstaates" Israel sei zu dem Zeitpunkt erfolgt, als Europa sich anschickte, sich vom Volksstaat zu verabschieden. Auch der Firedensprozess im Nahen Osten, so Milner, ist eine europäische "Problemlösung", und zwar über das "palästinensische Paradigma". Die erste Befreiung der Juden bestünde daher in der Befreiung von Europa.

Vor diesem Hintergrund wendet sich Badiou gegen den Milnerschen "Nom Juif" (den er nie genau verstanden habe). Er nennt den Ansatz "Nominalisme", unhistorisch und den Willen der Individuen missachtend. Der Begriff sei nur schlüssig, wenn eine göttliche Tendenz interveniere. Er stellt ihm die "Universalität" entgegen, als mögliches Prädikat der Wahrheit gegen jedes "identitäre System". Warum , so Badiou, sei der "Name Jude" eine Ausnahme? Schließlich seien gerade viele Juden Internationalisten gewesen und - fügt er als Kritiker der Regierung Israels hinzu - genaus deswegen stellt ein "Judenstaat" für viele Kosmopoliten ein Problem dar.

Milner argumentiert linguistisch (und politisch): nur der "Nom Juif" werde in der ersten Person verwandt. Die Franzosen, Deutsche, Engländer sind "tous" (alle). Die Juden aber seien "pastous" (nicht alle). Immer wenn der Name Jude auftauche, ändere sich die Tonalität, so auch in dieser Diskussion. Badiou weist dies zurück: es handele sich um eine inhaltliche Divergenz, was Milner im Postskriptum nicht verneint: Neu ist die antijüdische Verachtung des alten Antisemitentyps. Der neue Antijudaismus ist ein Marker der Freiheit des Geistes und der Freiheit der Politik geworden. Der deutsche Leser denkt an die zum Teil bizarre "Beschneidungsdebatte".

Bleibt als drittes großes Thema das (politische) Verhalten in der Welt. Und dies gestaltet sich platonisch. Der Kommunist Badiou möchte /muss das "Il y a" (das "Es gibt") transzendieren, was nicht gehe, so Milner. Wir verlassen die Höhle nicht, denn die Höhle Platons sei die Welt. Es sei klassischer Marxismus, die Bilder an der Wand zu analysieren, allerdings ohne Ende, ohne Ziel (Marxens politische Aussagen seien übrigens widersprüchlich).

Badiou: Du kannst nicht nur die Höhle nicht verlassen, sondern du musst die vollständige Kontingenz dieser Höhle ertragen. Was Milner bejaht. Badiou postuliert sehr allgemein die Wahrheitssuche, ein "Multiple-réel", das nicht auf die Kontingenz der Höhle reduzierbar sei und zum Ausgang führe. Allerdings sei der einzige Sinn die Rückkehr. Hier zeigt sich der alte Maoist: ohne Verbindung der Intellektuellen mit den Massen sei keine kommunistische Politik möglich.

Da sollte man doch noch einmal bei Platon nachschlagen (Politeia, VII. Buch): Was den betrifft, der es untenehmen sollte, die Gefangenen zu befreien und nach oben zu führen, und wenn diese die Macht hätten, ihn zu ergreifen und zu töten, würden sie ihn nicht töten?.

Moderner gefragt: würden sie sich nicht mit Händen und Füßen wehren, von den vielen schönen bunten interaktiven Bildern an der Wand "befreit" zu werden?

(1) Alain Badiou/Jean-Claude Milner, Controverse. Dialogue sur la politique et la philosophie de notre temps. Paris 2012 (Seuil)

(2) Jean-Claude Milner, Les penchants criminels de l'Europe démocratique. Paris 2003 (Verdier)

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