Wenn das Geheime öffentlich wird

Dreyfus-Affaire Der Dreyfus-Skandal ist bestens erforscht. Robert Harris zeigt, dass man trotzdem einen so spannenden wie lehrreichen Roman über ihn schreiben kann.

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Meine Generation hat zwei Siege erlebt, die Dreyfus-Affaire und 1918 (Léon Brunschwig, 1932)

Das ist die Revanche von Dreyfus! (Charles Maurras, Gründer der Action francaise, als Angeklagter 1945)

Wir müssen den Militärs ein Beispiel geben, und nicht ein schlechtes Gewissen (Präsident Mitterand anlässlich seiner Weigerung, im Hof der Militärschule eine Dreyfusstatue aufzustellen, 1981)

Dreyfus ist Frankreich (Präsident Chirac, 2006)

Es ist, als ob der Dreyfus-Skandal noch immer eine Affaire ist. Dabei ist er erforscht wie kein anderer Justizskandal. Die juristischen, die sozialen und politischen Dimensionen sind analysiert, die kollektiven Gedächtnisspuren identifiziert. Und jetzt noch ein Roman?

Aber ja, wenn der Autor Robert Harris ist! Und wenn die Spannung für den Leser nicht nur in den Geschehnissen selbst, sondern ebenso in der Frage liegt: Wie bezieht dieser Meister des polithistorischen Romans Faktizität und Fiktionalität aufeinander. Welcher "Taschenspielertricks bei Struktur und Charakterisierung" (Harris) bedient er sich?

Schnell bemerkt man: Gerade das gründliche Studium des immensen Quellenkorpus, die Fakten also, ermöglichen die Qualität der Fiktion. Auch weil - für historische Romane eher ungewöhnlich - : Harris' Erzähler keine (erfundene) Nebenfigur ist, sondern der Protagonist überhaupt: Oberstleutnant Marie-Georges Picquart, Chef des "Deuxième Bureau". Über ihn schrieb der Präsident der Liga der Menschenrechte schon 1898:

Wir wollten einen Held: hier ist er. Ja, ein Held, und das Wort ist nicht zu stark.

Auch Proust hat dem Wahrheitssucher Picquart im "Jean Santeuil" ein Denkmal gesetzt. Der Erzähler hat also - auch buchstäblich, wie sich zeigen wird - Durchblick und Charakter.

Der Roman beginnt in der gebotenen militärischen Kürze: Major Picquart für den Kriegsminister. Der Ich-Erzähler hat nämlich dem General Mercier Bericht zu erstatten, und zwar über die berühmte demütigende Degradierung des Verräters Dreyfus. Seine Supérieurs sind mit ihm zufrieden, der brillante Lehrer an der Militärakademie (übrigens auch des ebenfalls brillanten Major Dreyfus) ist offensichtlich zu Höherem befähigt . Picquart ist halt gewissenhaft, auch wenn er feingeistig und in Sittenfragen eher liberal ist. Der eingefleischte Junggeselle Picquart liebt Soiréen à la Proust. Ein guter Musiker ist er. Und in seiner knappen Freizeit übersetzt er Dostojewski.

Aufgrund seiner nützlichen Dienste wird er befördert. Frankreichs jüngster Colonel-Lieutenant wird Chef des Bureau des Statistiques. Wäre der Name des militärischen Geheimdienstes nicht wahr, müsste man ihn erfinden! Er ist damit Vorgesetzter von intriganten Akteuren wie Henry, Lauth und Gribelin. Sie alle sollen in den folgenden Prozessen eine unheilvolle Rolle spielen. Dem Autor gelingen hier wundervolle Portraits von Tätern.

Ziemlich schnell erkennt Picquart, in welchem Spinnennetz er steckt. Berufsbedingt liest er die Briefe Dreyfus von der Teufelsinsel. Er entdeckt einen Wahlverwandten, bekommt Zweifel. Die Zweifel wecken seine Neugier. Schließlich entdeckt er durch einfachen Schriftvergleich (und nach illegalem Ausspionieren der deutschen Botschaft) den wahren Verräter und Verfasser des berüchtigen, Dreyfus angeblich überführenden "Bordereau" (Zettel): einen gewissen Major Esterhazy. Dazwischen liegen Selbstzweifel (Dreyfus war ihm früher eher unsympathisch. Weil er Jude ist?), Ekel (das Motiv des Fäkaliengestanks im sommerlichen Paris zieht sich durch den Roman) und die Auseinandersetzung mit dem polizeilichen Papst der wissenschaftlichen Anthropometrie, dem berühmt-berüchtigten Bertillon. Zu letzterem befand 1906 der Mathematiker Poincaré:

Er selbst hat seine "Methode" so definiert: "Wenn man sucht, findet man immer." Wenn eine Koinzidenz festgestellt wird, ist sie ein überzeugender Beweis; wenn nicht, ist dies noch überzeugender, denn dies beweist, dass der Schreiber den Verdacht auszuräumen versucht hat.

Picquart muss erkennen, dass er selbst während des ersten Dreyfusprozesses als Werkzeug der Generalität missbraucht wurde . Und auch wenn ihn damals der antisemitische Mob abstieß, hatte er doch keinen Zweifel an Dreyfus' Schuld, ja, am Abend des Urteils genoss er ohne Reue die Uraufführung von Débussys "Nachmittag eines Fauns". Dieser Rückblick wird vom Autor auch sprachlich in der Vergangenheit gehalten.

In der Gegenwart wird das einstige Instrument zum Akteur. Er erzürnt mit seiner Beharrlichkeit die Vorgesetzten, die befinden, dass der Dreyfus-Prozess eine res iudicata sei - und basta: "Dies ist ein Befehl!"

Picquart geht schließlich an die Öffentlichkeit. Ein schwerer Entschluss für einen überzeugten Offizier. Er wird zum Whistleblower. Dass die Wikileaks-Affaire sich zur Zeit der Niederschrift ereignete, bezeichnet Harris selbst als Zufall, er sieht aber Ähnlichkeiten. Von nun an erscheint Picquarts Leben wie eine Parallelbiographie zu Dreyfus: er wird zu einem gefährlichen Einsatz in Nordafrika abbefohlen. Dort erfährt er Verbannung, Isolation, Beschimpfungen durch die Massenmedien (und die Kameraden), Trennung von der geliebten Frau (eines anderen), schließliche Rückkehr, aber nur, um im Gefängnis zu landen.

Die Darstellung des Kampfes um Wahrheit und Recht, von Dreyfusards und Antisemiten bekommt hier einige Längen (was aber den Fakten geschuldet ist). Richtig spannend jedoch ist die Lektüre des Revisionsprozesses von 1899 in Rennes. Harris zeigt noch einmal das Aufeinandertreffen der Protagonisten, die Generäle und Fälscher in ihrer gnadenlosen Arroganz, Dreyfus als kranken, aber unbeugsamen Kämpfer für seine (militärische und patriotische) Ehre. Schließlich gewährt die Macht mildernde Umstände und Strafreduktion. Nur durch ein Gnadengesuch kommt Dreyfus frei. Die überfällige Rehabilitation geschieht schließlich im Jahre 1906.

Der Schluss ist originell und knüpft an den ersten Satz des Romans an. Diesmal lesen wir: Major Dreyfus für den Kriegsminister. Der heißt nun allerdings Marie-Georges Picquart. Dreyfus hat ein nur gerechtes Karriereanliegen, welches Picquart "in seiner Pflicht" als Minister ablehnen muss. So richtig kommen die beiden nicht zueinander.

Die "Taschenspielertricks" funktionieren. Gerade sie zeigen das Kafkaeske der Affaire und den Mut eines Picquart, den Way of no return zu gehen. Sie regen den Leser an, über das eigene Mitmachen im Großen wie im Kleinen nachzudenken. Harris lässt uns mit den Techniken des Fiktionalen das bekannte Faktische er-kennen.

Polanski plant eine Verfilmung. Es wird ein sehr guter Film.

Robert Harris, Intrige, München 2013 (Heyne)

Vincent Duclert, L'Affaire Dreyfus, Paris 2009 (Larousse)

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