Über Nacht eine andere Wirklichkeit - Tagebuchblätter 1990

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Und wieder steht uns ein deutsch-deutsches Jubiläum bevor, oder sollte man von "deutsch-deutsch" in diesem Zusammenhang gar nicht mehr sprechen ("Doppeldeutsch" nannte der zeitig in die Bundesrepublik übergesiedelte Schriftsteller Udo Steinke eine Sammlung von Episoden, die sich mit der Realität des geteilten Landes befaßten)?

Am 29.09.1990 notierte das von den sich überstürzenden und doch als folgerichtig titulierten Ereignissen irritierte "Ich": "verfolge im Fernsehen die Sitzung der Volkskammer, schon stundenlang, statt spazieren zu gehen, und was ich sehe, läßt mir alle Ankerpunkte, die ich für den Tag vorgesehen, entgleiten, ich treibe dahin, in den Abend, heimatlos ..."

30.09.1990: "Gestern hörte ich Loests Stasiakten-Feature, heute Bettina Wegners Lieder, und ich spüre, wie eine gelebte Geschichte ihren Raum außerhalb unserer selbst verliert, das Land nicht mehr länger deren Raum sein kann. Es ist nicht mehr ein Land wie jedes andere, wie Polen etwa, das trotz aller Veränderungen Polen bleibt. Ich fühle uns, unsere Geschichte des eigenen Raumes enteignet, und die Lieder scheinen darin keinen Halt mehr zu haben, es sei denn in uns ...

Gleich etlichen Orten, die ich nur mehr in mir trage, all die Orte, die abgetragen, abgebaggert worden sind, der Braunkohle zuliebe. Ich weine nicht den Verhältnissen nach, unter denen wir jahrzehntelang auch gelitten haben, ich weine all den Hoffnungen nach, die sich vor knapp einem Jahr eröffnet hatten. Ich weine wider aller Vernunft, die sagt, daß nichts verloren ist ..."

01.10.1990: "Übermorgen werden dem Bundestag 144 Abgeordnete der vormals DDR zugeordnet, was prozentual und proportional rechtens ist, doch wenn es um die speziellen Probleme und Interessen des Sondergebietes geht, bleiben diese 144 Abgeordneten möglicherweise in der Minderheit. Es ist nicht sicher, ob sich die Parteien als ganzes für die Interessen dieses Ge-ländes engagieren oder nur aus der Perpektive der Stammrepublik darauf blicken werden."

02.10.1990: "Mitternacht: es ist, als verließe ich mein Land, als müßte ich es verlassen, über Nacht und für immer ... Weil etwas auch dem Namen nach zuende geht, etwas, das mein Leben begleitet hat, etwas Bedrückendes und im Widerstehen Utopien erweckendes - doch Utopien sind heutzutage verpönt. Die große Freude erlebe ich nicht heute, ich erlebte sie vor einem knappen Jahr, da wir endlich die Angst vor dem eigenen Gesicht überwunden hatten, endgültig ..."

03.10.1990: "Jetzt weiß ich, warum ich unserer Geschichte den Raum entzogen sehe: Das Land wird über Nacht einer anderen Wirklichkeit überantwortet, einer Wirklichkeit, die es so aus sich heraus nicht entwickelt, gebildet hat."

Am 03.03.1990 hatte das mittlerweile Lichtjahre entfernte "Ich" formuliert: "Wenn die, die auf eine schnelle Vereinigung (in ihren Worten: Wiedervereinigung) drängen, jenen das Recht auf ein offenes Wort streitig machen wollen, die eine größere Bedachtsamkeit in diesem Prozeß und die Aufarbeitung der eigenen Geschichte einfordern, so habe ich den Eindruck, als ob sie einer Stimme in sich selbst verbieten wollten, zu sprechen. Der Stimme des Zweifels, ob diese schnelle Vereinigung nicht doch möglicherweise eher eine Flucht, Aufgabe, und also ein Fehler ist? Etwas, das sie nicht wahr-haben möchten ..."

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Geschrieben von

jayne

beobachterin des (medien-) alltags

jayne

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