Filmfestivals für Poser: die Internationalen Hofer Filmtage 2011 (3)

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Samstag, 29. Oktober

10:00 Uhr: Mist. Ursprünglich war der Plan, den Tag fast ausschließlich im schönsten Festivalkino, dem Scala zu verbringen. Vier Filme nacheinander sollten es sein. Beim Sortieren stellen wir fest, dass wir einen Film davon gar nicht und einen nur einmal haben, dafür einen Film dreifach und eine Karte für einen Sonntagsfilm, den wir nicht möchten. Es war wohl ein Fehler, der Frau im Kartenhäuschen das Filmprogramm mit meinen Markierungen zu geben, um ihr die Lauferei zu ersparen. Die Schuld liegt eindeutig bei uns; wir hätten sofort kontrollieren sollen. Es wäre aber sofort oder wenigstens eher aufgefallen, wenn auf den Karten der Filmtitel oder wenigstens die Uhrzeit eingetragen wären. So sind zwei unserer Wunschfilme ausverkauft. Die dritte Karte und die Einzelkarte tauschen wir um, eine Karte werde ich direkt bei einer Interessentin los. Nur mal so zum Vergleich: Beim EXGROUND-Festival in Wiesbaden steht das komplette Programm vier Wochen vor Festivalbeginn online. Seit 31. Oktober sind Karten erhältlich. Zugegebenermaßen sind es nur vier Festivalkinos an verschiedenen Standorten und weniger Filme an immerhin neun Festivaltagen. Aber es gibt nur an zwei Kinos Kartenhäuschen mit je einer Person drin. Sämtliche Karten sind mit Abspielstätte, Filmtitel und Zeit bedruckt. Das KANN nicht so schwer sein.

10:45 Uhr im Central
HALLAM FOE
aus der David-Mackenzie-Retro, Großbritannien 2007, englische Originalfassung mit deutschen Untertiteln, 35mm

Ein halb verwilderter Teenager ist überzeugt, dass seine Stiefmutter seine Mutter umgebracht hat. Er läuft von zu Hause fort, um auf den Dächern von Edinburgh zu leben, und verliebt sich in ein junge Frau, die ihn an seine Mutter erinnert. Düstere romantische Komödie über das Erwachsenwerden.

Eine tragische Geschichte um einen armen jungen Mann mit erheblichen psychischen Problemen kann sehr öde und deprimierend sein. David Mackenzie schafft es aber mit überzeugenden Figuren, gelungenem trockenem Humor und erstklassigen Darstellern großartig zu unterhalten.
Jamie Bell (Durchbruch als Billie Elliot, derzeit in TIM UND STRUPPI als Computeranimation zu sehen) ist phänomenal. Psychische Störungen und auch noch eine Note Ödipus können bei einer falschen Bewegung schnell zum Karriereende führen und daher ist es auch noch extrem mutig, so eine Rolle zu spielen. Dass ausnahmslos alle schauspielerischen Leistungen sehenswert bis großartig sind, führe ich nicht zuletzt auf die Leistung des Regisseurs zurück.
Note = 1

Wir beschließen, um 14:00 Uhr in das Club-Gespräch mit David McKenzie zu gehen. Harald kommt aber zu spät und das Kino ist voll, da geht er in einen französischen Film ins Nachbarkino und erlebt die unglaubliche aber leider alltägliche Situation, dass ein Kinobesucher während des Films angerufen wird und tatsächlich mit seiner Lebensgefährtin die Einkaufsliste für das Abendessen durchgeht. Überhaupt ist es schon eine Seuche, dass überall von Straßenverkehr bis Kinovorstellung telefoniert, gesurft und das Gesichtsbuch gepudert wird. Kaum ist im Festivalkino der Abspann am laufen, geht ein Sternenbanner an Mobiltelefonen an – sogar die Anwesenheit von Filmemachern ist kein Anlass zur Zurückhaltung. Der Film war wohl in Ordnung.
Sowohl die frühen Kurzfilme als auch das Gespräch mit David McKenzie sind sehr interessant. Er hat die Angewohnheit, Darsteller, die gerne improvisieren (z.B. Ex-Trainspotter Ewen Bremner), und Darsteller, die sich gerne direkt an das Drehbuch halten (Ewan McGregor), zu kombinieren, was interessante Impulse für die Dreharbeiten und den Film bringt. Er hat ein gutes Auge für Personen, Landschaften und interessante Situationen, was in seinen Filmen gut zur Geltung kommt. Obwohl er sehr talentiert ist und das offensichtlich weiß, bleibt er auf dem Teppich und ist sehr nett und symphatisch.
Ich lasse mir ein Autogramm in den Filmkatalog geben. 1994 war der Neuseeländer Peter Jackson mit einer Retrospektive und seinem damals aktuellen Film HEAVENLY CREATURES in Hof. Kate Winslet hatte hier ihr Filmdebut, bevor sie mit TITANIC zum Weltstar wurde. Ich bekam ein Autogramm von Peter Jackson. Außer den Fans schräger Horrorkomödien kannte ihn nur Wenige. Das änderte sich bald, denn wenig später begann er mit der Arbeit an der HERR-DER-RINGE-Trilogie. Wer weiß, welche Wege die Karriere von David McKenzie noch gehen wird. Vielleicht komme ich in 15 bis 20 Jahre wieder nach Hof und kann ich auch mit einem Autogramm von ihm etwas angeben. Da muss er herzlich lachen.

17:00 Uhr im Scala
LA GUERRE EST DÉCLARÉE
von Valerie Donzelli (auch weibliche Hauptrolle), Frankreich, französische Originalfassung mit deutschen Untertiteln, DCP

Ein junges glückliches Paar, Romeo und Juliette. Ihr kleines Kind, Adam. Eine starke Bewährungsprobe. Und die grandiose Liebesgeschichte einer kleinen Familie. Der Film erzählt die ebenso authentische wie romantische, autobiografische Geschichte eines modernen Liebespaares. Vor eine harte Bewährungsprobe gestellt, erklären die beiden Liebenden dem Feind ihres Glücks kurzerhand den Krieg und kämpfen ebenso kraft- wie humorvoll um ihr Happy-End.

Der ernsthafte und gut gespielte Film büßt leider Intensität durch erzählerische und optische Mängel ein. Eingeschobene Monologe einer Hintergrundstimme, welche die Handlung weiter erzählen (hier sind es gleich drei verschiedene Stimmen), zeugen eher von Momenten der Einfallslosigkeit. In einer Klinik sind geometrische Formen wie Dreiecke und Rauten an den Wänden zu sehen. Im Gespräch mit der behandelnden Ärztin sind die Eltern des krebskranken Jungen so zwischen Kamera und Wand platziert, dass die eckigen Tapetenelemente aus deren Köpfen herauszuragen scheinen. Das mag vielleicht eine optische Rafinesse in Bezug auf den Hirntumor des Jungen sein; allerdings verzichtet die Regisseurin sonst auf solche Stilmittel und es scheint eher eine Unaufmerksamkeit zu sein wie der sprichwörtliche Baum, der aus dem Kopf wächst und immer als Beispiel für fotografische Pannen gilt. Auch eine Szene, in der die Eltern plötzlich unmotiviert beginnen, sich im Stil eines Musicals etwas vorzusingen, wirkt eher etwas verunglückt.
Note = 3-

Zwischenzeitlich wollen wir in einen Dokumentarfilm gehen, kommen aber nach einem Zwischenstop im Eiscafé zu spät. Es ist noch genau ein Rasiersitz in der ersten Reihe zu erkennen, einige Leute sitzen auf den Treppen. Es ist unangenehm warm im Kino und ich bevorzuge es, an die frische Luft zu kommen.
Nach ein bischen Herumtrödelei gehe ich bei einem Italiener essen. Da im Restaurant alle Plätze besetzt sind, platziere ich mich draußen und werde zwischenzeitlich Zeuge einer Unterhaltung von vier Filmhochschul-Hobbits, die sich für die zukünftigen Herrscher der internationalen Film- und Fernsehwelt halten. Viele Jahre lang wurden unzählige Vorstellungen von Filmhochschülern mit ihren Übungs-Kurzfilmen und teilweise von ihren jubelnden Semesterkollegen beherrscht. Die filmischen Ergebnisse waren nicht selten grausam bis bemitleidenswert und die Selbstbeweihräucherung der Szene war oft unfreiwillig komisch. Inzwischen sind die Filmhochschüler seltener da, vielleicht auch, weil sich ein wachsender Teil des Publikums davon genervt fühlt.
Nun sitze ich hier im Freien und esse Ravioli mit Kürbisfüllung (trotz Herbst und Halloween gibt es in der kommerziellen Gastronomie außer den ein / zwei Süppchen immer noch zu wenig Gerichte mit Kürbis). Ha, der eine Student will Werbeprofi werden, die andere verlässt sich ganz auf die Einflüsse der Fernsehsender, die schon sehr früh in die Filmhochschule kommen und den Unterricht auf ihre Bedürfnisse der pilcherisierten Fernsehspielunterhaltung abstimmen möchten; und da bei der Romantikschnulze der Woche möchte sie hin, weil da wohl mit die besten Verdienstmöglichkeiten in Aussicht gestellt werden. Ein Dritter möchte sich künstlerisch entfalten, war bei einem Austauschseminar in Frankreich und ist ganz erstaunt, wie frei und selbstständig die Studenten hier filmisch experimentieren können. Und dann möchte er das wahre Leben verfilmen und hat die Idee eines dreizehnjährigen Mädchens, das seine sexuelle Unschuld versteigern möchte, um die Schulden der Eltern tilgen zu können. Gepose ohne Ende.


21:45 Uhr im Scala
BABYCALL
von Pal Sletaune, Norwegen / Deutschland, norwegische Originalfassung mit deutschen Untertiteln, 35mm

Anna und ihr achtjähriger Sohn Anders sind auf der Flucht vor Anders’ gewalttätigem Vater. Unter einer geheimen Adresse ziehen sie in ein riesiges Appartmenthaus. Anna hat schreckliche Angst, dass ihr Ex-Mann sie finden könnte, und kauft ein Babyphone, um den schlafenden Anders in Sicherheit zu wissen. Über das Babyphone hört sie seltsame Geräusche, die irgendwo aus dem Gebäude kommen. Anna glaubt, dass sie den Mord an einem Kind belauscht hat. Anders hat in der Zwischenzeit einen seltsamen dunkelhaarigen Freund gefunden, der kommt und geht wie es ihm beliebt. Weiß Anders’ Freund etwas über die Geräusche aus dem Babyphone? Wieso ist Blut auf Anders’ Zeichnung? Sind sie immer noch in Gefahr?

Etwas, von dem, was wir hier als Handlung sehen, ist ganz anders. Der Regisseur gibt uns bereits ganz am Anfang die Gelegenheit, etwas davon heraus zu finden, und fordert bis zum Schluss unsere ungeteilte Aufmerksamkeit. Manche Fragen bleiben offen und der Regisseur genießt unsere Ratlosigkeit. Im Gespräch auf der Bühne und im kleinen Kreis im Kinofoyer erzählt er von norwegischen Filmforen, in denen hunderte von möglichen Theorien über die Auflösung ausgetauscht werden. Wie Vieles aus Schweden, Norwegen oder Dänemark ist das hier ein Psychokrimi der Spitzenklasse.
Die weibliche Hauptrolle spielt Noomi Rapace, die Lisbet Salander aus den MILLENIUM-Filmen. Aufgrund von hessischer Filmförderung wurden diverse Szenen in einem Frankfurter Krankenhaus sowie auf einem Frankfurter Schulhof gedreht.
Es ist bereits ein Hollywood-Remake mit zuckerglasiertem Ende in Vorbereitung.
Note = 1


0:45 Uhr im Central
MASKS
von Andreas Marschall, Deutschland, deutsche Originalfassung, DCP

Stella, die lange vergeblich versucht hat, sich an einer Schauspielschule zu bewerben, wird überraschend an der Privatschule “Matteusz Gdula” angenommen. Stella ist ehrgeizig, aber nicht sehr talentiert, was sie schnell zur Zielscheibe des Gespötts der anderen Schauspielschüler macht. Nur in der schüchternen Cecile, die in der Schule zu leben scheint, findet sie eine neue Freundin. Von ihr erfährt sie von Gdula, dem geheimnisvollen Gründer der Schule, der eine fragwürdige Schauspielmethode entwickelt hat. In den 70er Jahren kamen in seiner Theatergruppe mehrere Schüler ums Leben. Gdula brachte sich um, seine Methode wurde verboten. Als eine Schülerin spurlos verschwindet, vermehrt merkwürdige Geräusche aus dem geschlossenen, baufälligen Flügel der Schule dringen und die Lehrerschaft ihren Fragen zu Gdula und seiner Methode ausweicht, ahnt Stella, dass jemand Gdulas Lehre noch praktiziert. Und will auf jeden Fall daran teilnehmen. Selbst, wenn es sie das Leben kosten sollte…

Das klingt wie ein Dario Argento für Arme, ist aber ein wirklich spannender und interessanter Gruselkrimi. Inspirationsquelle sind die italienschen Genreperlen der 70er und frühen 80er Jahre. Der Regisseur scheint Einige davon gesehen zu haben, schwelgt in deren Stilmitteln und zitiert sie ausgiebig und hingebungsvoll von den ausgedehnten Kamerafahrten bis zur Ausstattung und der Filmmusik. Direktes Vorbild ist natürlich Argento´s SUSPIRIA, den er zwar audiovisuell nicht erreichen kann, schauspielerisch und inhaltlich allerdings kaum zu fürchten braucht. Hier ist es nicht wie bei Argento eine amerikanische Jungtänzerin (bei Argento sind es immer amerikanische Touristen, Tänzerinnen, Musiker oder Autoren, die in einen Morfall geraten) sondern eine deutsche Schauspielerin. Im letzten Drittel lässt der Film an Spannung etwas nach. Hier die Handlung um zehn oder zwanzig Minuten zu raffen, wäre nicht die schlechteste Idee gewesen. Allerdings überzeugt der Schluss nochmal, lässt er dem Publikum doch die Interpretation zwischen zwei möglichen Auflösungen.
Die Mordszenen sind sparsam, aber durchaus heftig und blutig gestaltet, hätten allerdings etwas abwechslungsreicher in der Wahl der Waffen und Todesarten sein können.
Die Digitalprojektion lässt vermuten, dass die Farbgestaltung besser hätte zur Geltung kommen können, aber mit dieser Projektionstechnik im Kino scheint leider nur Mittelmaß möglich zu sein.
Im Abspann bedanken sich die Filmemacher abschließend noch bei der Dreifaltigkeit des italienschen Genrekinos: Mario Bava , Dario Argento und Sergio Martino
Eine überaus positive Überraschung, die vermutlich leider direkt auf DVD herauskommen wird.
Note = 2

Harald, der eigentlich noch auf eine Party gehen wollte, hatte vor diesem Film bereits zwei Weizenbier getrunken und Teile des Films verschlafen. Auf die Party verzichtet er nun doch, da wir am Sonntag um 7:00 Uhr aufstehen und zurück nach Frankfurt fahren müssen. Harald´s Frau nimmt dort an einem Marathonlauf teil. Zum Glück wurde in der Nacht auf Sonntag auf Winterzeit umgestellt und wir haben immerhin eine Stunde mehr.

Fazit: Insgesamt war es ein vergleichsweise sehr sehr guter Jahrgang. Es gab einige positive Überraschungen, allerdings auch mehrere äußerst negative. Anspruch und Spektrum der Hofer Filmtage sanken in den vergangenen Jahre kontinuierlich in die Provinzialität und Bedeutungslosigkeit. In unseren Anfangsjahren gab es ein äußerst interessantes Angebot von Filmen aus Ländern wie Kanada, Australien, Neuseeland; die Regisseure, Darsteller/innen oder andere Teammitglieder waren oft da. Damit ist das Film- und Künstlerspektrum aus den vergangenen Jahren leider nicht mehr zu vergleichen. Dieses Jahr war überdurchschnittlich gut, allerdings wurde der Schnitt erheblich durch die Anwesenheit und die Filme von David McKenzie gehoben.

S. auch:

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Martin Betzwieser

Personifizierter Ärger über Meinungsmanipulation, Kino- und Kabarattliebhaber

Martin Betzwieser