S21: Im Drogenrausch zum Ermächtigungsgesetz (Schluss)

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Und nun - endlich, endlich! - zur Banalität der Macht. Beziehungsweise ihrer „Argumente“. Und der zu klärenden Frage: Was ist die Mehrheit in der vergangenen Volksabstimmung wert? Zunächst versuchte man es ja ganz banal, mit Wasserwerfern und Polizeigewalt. Aber die Exekutivorgane waren zu ungeübt, zu lange aus der Übung. Zu bequem geworden in der bleiernen Schwere der Ära Kohl. Die Lügen danach waren zu durchsichtig und die Provinzpolitiker, die sie äußerten zu tolpatschig auf dem bundesweiten Parkett, auf dem sie sich plötzlich und unvorbereitet wiederfanden. Also musste OStA Häußler zur Verarbeitung des renitenten Fußvolks antreten. Und Heiner Geißler an das anspruchsvollere Fernseh-Publikum ran.

Solche Bilder“ (die Polizei wütet gegen Kinder, das Volk blutet und Mappus säuft) mussten wieder aus den Köpfen. Und zwar schnell. Die neuen Helden mussten im Fernseh-Dauer-Talk so intensiv gelobt und gehätschelt werden, dass sie, wenn sie schon nicht dabei einschliefen, so doch bei jedem weiteren Protest der Undankbarkeit und Unersättlichkeit geziehen werden konnten.

Also erklärte sie Geißler, ganz der Oberguru, zum zu Unrecht geschmähten und nicht angehörten Modell für Deutschland. Ach was, für die ganze Welt natürlich. Kant musste bemüht werden, um die Sache gar ins Philosophische zu erheben (Solange die Deutschen in höheren Sphären schweben, revoltieren sie bekanntlich nicht). Er hörte geduldig zu, solange es für die S21-Befürworter nicht zu eng wurde. Er ergriff dankbar die Gelegenheit, den ihm offenbar zutiefst unsympathischen Herrn Bitzer von S21 anzumachen, um so den Eindruck von Überparteilichkeit zu erzeugen. Und am Ende dann: April, April, Grube macht, was er will.

Nein, nicht ganz. Das wäre gar zu platt und durchsichtig gewesen. Der Palmer nervte nämlich noch und musste ruhig gestellt werden. Also für ihn den Stresstest, den die Bahn schon schaukeln würde. Für die esoterischen Weiber von der Baumverehrer-Fraktion gab es ein Verpflanzungs-Placebo, das schon obsolet war, bevor es ausgesprochen wurde, weil Naturgesetze nun mal Naturgesetze sind. Ach, und dann noch dies und jenes. Und weiße Salbe für die Öffentlichkeit. Ach ja, die Gäubahn noch für die nostalgischen Jugenderinnerungen des Gurus persönlich. Und dann musste man nur noch warten, bis das alles so seine spaltende und einschläfernde Wirkung entfaltete und die Wahlen für Schwarz-Gelb – eigentlich ja Schwarz-Grün - rettete.

Und dann: Fukushima. Und jetzt zeigte sich, dass einem Geißler das langfristige und Alternativszenarien einplanende Denken so in Fleisch und Blut übergegangen ist, dass sein „Spruch“ selbst dann noch funktionierte, als die Sache bereits vergeigt schien. Und die SPD gab es ja auch noch, was man – mangels S21-Kompetenz - bereits vergessen hatte. Und die füllte die Strategie-Lücke nun mit ihrer Volksabstimmung.

Und dann war Schluss mit Geißlerscher Rabulistik und Srategieakrobatik. Jetzt langten die Chefs vom Kapital und institutionalisierter CDU persönlich zu. Unbelastet von irgendwelchen Kenntnissen in der Sache konnten insbesondere die Herren über die Produktionsmittel frei und unbeschwert ihr erprobtes Lügen- und Plattitüdenspiel entfalten. Und das 1984er-Büro der Bahn ging gerne zur Hand. Die schwarz-gelb-rote Politikerkaste auch. Und die vom Widerstand gereizten und beleidigten Lokalmedien sowieso.

www.kontextwochenzeitung.de/newsartikel/2011/11/die-wirtschaft-als-retter/

Um was es dann bei der Volksabstimmung in Wahrheit einzig und allein ging, hat Bahnchef Grube inzwischen der „BamS“ eröffnet: „Wenn Bürger jetzt weiter gegen das Projekt kämpfen, kämpfen sie nicht gegen die Bahn, sondern gegen die Bevölkerung.“ Die Absicht der ursprünglichen Erfinder ging aber schon noch etwas weiter: Auch die Regierung – egal, welche Trendfarben sie gerade trägt – will sich gerne hinter dem (verarschten) „Volk“ verstecken. Schon allein deshalb, weil die Masken bereits jetzt von den offiziellen Lügen abfallen, wie die Blätter im Herbstwind. Und welche Regierung möchte schon gerne dafür verantwortlich gemacht werden, dass gerade die wertvollsten Bäume im Schlossgarten für eine zu erwartende Bauruine fallen? Dass das Land, mitten in einer weltweiten Finanzierungskrise, Millionen, wenn nicht gar Milliarden von anderen Bereichen abziehen muss, um die ENBW-, LBBW- und S21Katastrophen irgendwie nach zu finanzieren?

Ja, liebe Bürger, was wollt ihr denn? Ihr habt es doch so gewollt! Ist doch alles amtlich. Sauber nachgezählt. Habt ihr nicht gewusst? Aber Leute, ihr seid doch erwachsene Menschen. Ihr könnt doch Zeitung lesen. Jeden Montag seid ihr doch schimpfend an Demos vorbeigefahren, wo euch all dies bis zum Erbrechen in Endlos-Schleife vorgeleiert wurde!

www.stuttgarter-nachrichten.de/inhalt.im-rathaus-s21-gegner-beraten-ueber-zukunft.20a128b4-dc12-4127-b105-1c9d867b26c2.html

Nun ja, ganz so einfach war es denn doch nicht. Da waren auch eine ganze Menge Nebelmaschinen im Einsatz:

Berichtet wurde von (sinkenden) Teilnehmerzahlen, nicht von Argumenten.

Über „Solche Bilder“ vom 30.09.2010 wurden ausgiebigst grell nach retuschierte „Bilder“ von der Baustellenbesetzung am 20.06.2011 überblendet. Und nachdem Mappus weg war, waren es nun „solche“ Bilder, die man nicht mehr sehen wollte.

Nicht zu vergessen die gute Frau Oberpauer von der „Halbhöhenlage“, die, ihrer Realität und Authentizität beraubt, zum Cliché und Feindbild aufgeblasen wurde, und fortan in jeder Talkshow und jedem „Essay“ die perversen Polit-Phantasien der Wutbürger-Manufaktur beflügeln musste. Kein Mensch interessierte sich je dafür, wen oder was sie danach eigentlich tatsächlich gewählt haben mochte. Ist ja auch ihr Geheimnis.

www.youtube.com/watch?v=DNT8wS1dutg (Man beachte den Button von Frau Roth!)

Versagt hat aber auch der Widerstand: Der Definitionsmacht der Gegnerhilflos ausgeliefert, weil viel zu ehrlich und viel zu wenig erfahren in Skrupellosigkeit, musste man zusehen, wie die organisierte Gier es schaffte, die Kämpfer für Nachhaltigkeit und Gemeinwohl in die Ecke von Egoismus und Partikularinteresse zu stellen. Und das waren dieselben Leute, die, wenn es um die Marktwirtschaft geht, selbst unermüdlich und mit enormer Lautstärke die Wohltätigkeit von Egoismus und Partikularinteresse preisen und deren Schutz vor Politik und Gesellschaft fordern.

Mit großem und nachhaltigen Erfolg wurde auch das neue Arschloch Europas zum neuen Herzen Europas umdefiniert. Und keiner im Widerstand kam auf die Idee, die Wahrheit zu plakatieren. Zu unfein für bürgerliches Denken. Und damit auch viel zu riskant.

Selbst in der „Schlichtung“ gelang es nicht – dank Geißler – die vielbeschworene Leer-Formel von der Stuttgarter Ingenieurskunst als das zu entlarven, was sie in diesem Fall eher zu sein scheint: politisch erzwungener und gemeingefährlicher Murks.

Und über all den technischen und finanzakrobatischen Fragen, die den Normalbürger völlig überfordern, geriet die Stadtzerstörung, die faschistoide Barbarei gegen ein schützenswertes Natur- und Kulturdenkmal, mit deren Darstellung auf einem Flyer Klaus Gebhard Anfang 2010 den bürgerlichen Protest überhaupt erst maßgeblich erweitert hatte, völlig in Vergessenheit. Kalte Zahlen überlagerten die entscheidende Emotionen, die dafür von den geschönten Phantasiebildern einer angeblich schönen S21-Zukunft bedient wurden.

www.freitag.de/community/blogs/seriousguy47/s21-info-material

Und dazu kam, dass die SPD es erfolgreich schaffte, die Entscheidung über S21 den Bürgern der Stadt zu entziehen und den Wählern draußen im Land zuzuspielen.

Und was wollte diese Mehrheit? Geht man nach den Slogans der Plakate, die zu dieser Mehrheit führten, dann war es (Friedhofs-)„Ruhe“ statt Verantwortung, kritischer Diskussion, „Streit“ (Fertigbauen oder weiter ärgern?). Oder 900 Millionen für einen „modernen Bahnhof“ statt „1,5 Milliarden für gar nichts“. Dass die 1,5 Milliarden eine reine Gier- und Panikmache-Phantasie der Bahn waren, wen juckt es? Und ist so eine Zahl erst einmal in der Welt, wer will sie wieder einfangen? So etwas ist ansteckender als die Vogelgrippe. Jedenfalls bei dem Journalismus, unter dem wir gegenwärtig leiden. Und es war ja nicht einmal gelogen, nur phantasiert.

Schaut man schließlich noch in die Analyse der Ergebnisse durch Fachleute, dann gab es da auch noch eine Rache für die Landtagswahl und den Verlust der als ewig während angemaßten Macht der schwarz-gelben Herrschaftskaste. Es gab die übliche Dominanz der kleinen Städte und der ländlichen Provinz mit ihren klerikal-konservativen Strukturen über die großen Städte und ihr aufgeklärtes, liberales Bildungsbürgertum. Und es gab eine Spaltung zwischen den aufmüpfigen Badenern, die französische Frischluft schnuppern, und den duckmäuserischen Dumpf-Schwaben, die seit der Niederschlagung der Bauernaufstände politisch in ihrem immer gleichen schwarzen Mief verharren, in dem Gönners jeglicher Couleur prächtig gedeihen.

www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.volksabstimmung-die-cdu-hat-besonders-stark-mobilisiert.bfdbbbce-75b8-470b-91be-fa8a1f64c2fa.html

Gerafft könnte man sagen: einer ziemlichen Trägheit von grüner Regierung und Blauäugigkeit beim Widerstand, wo man allzu naiv auf Argumente, Ehrlichkeit, Anstand, Sparsamkeit, Rationalität, und Fairness setzte, standen auf der Gegenseite Filz, Skrupellosigkeit, aktive Blindheit, eingespielte autoritäre Strukturen, Abhängigkeiten und sozialer Druck besonders in den kleinen Städten und auf dem Land, gegenüber, die ohne Skrupel fürs Foul-Spiel mobilisiert und manipuliert wurden.

Und wie könnte es weiter gehen? Zwei Entwicklungen scheinen mir plausibel: S21 kommt, wenn überhaupt, nicht so wie versprochen und „geplant“. Und Stuttgart wird im Kern verwüstet sein und nie wieder das sein, was es vor dem 30.09.2010 war. In keiner Hinsicht.

Die vorausgegangenen Teile dieses Beitrags finden sich hier:

www.freitag.de/community/blogs/seriousguy47/s21-im-drogenrausch-zum-ermaechtigungsgesetz-1

www.freitag.de/community/blogs/seriousguy47/s21-im-drogenrausch-zum-ermaechtigungsgesetz-2

www.freitag.de/community/blogs/seriousguy47/s21-im-drogenrausch-zum-ermaechtigungsgesetz-3

www.freitag.de/community/blogs/seriousguy47/s21-im-drogenrausch-zum-ermaechtigungsgesetz-4

Als notwendige Ergänzung zu diesem Beitrag in fünf Teilen betrachte ich folgende Texte von Prof. Dipl.-Ing. Karl Dieter Bodack:

www.freitag.de/community/blogs/seriousguy47/s21-im-drogenrausch-zum-ermaechtigungsgesetz-1

www.freitag.de/community/blogs/seriousguy47/s21-im-drogenrausch-zum-ermaechtigungsgesetz-2

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Geschrieben von

seriousguy47

Anglophiler Pensionär und Flüchtlingsbetreuer aus Stuttgart.

Wehrdienst, Studium ( Anglistik, Amerikanistik, Empirische Kulturwissenschaft, Sozialpädagogik) , Praktikum ( Primärtherapie), Lehramt, Flüchtlingsbetreuung

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