Wie kommt man bloß aus einer Geschichte raus, die keine klassische Ordnung mehr hat? Ob DDR, SPD oder die Demokratie an sich: Überall stellt sich die Sinnfrage
Und dann noch Sigmar Gabriel. Wenn man sich fragt, wozu die Berlinale eigentlich da ist, kommt man auf viele Zwecke. Die alle verbindet, dass eine Riesenmaschine wie das größte deutsche Filmfestival in zehn Tagen Zeit verdichtet, um Öffentlichkeit herzustellen und Kommunikation zu stiften.
Diese Form der geschärften Wahrnehmung, die Gespräche von Bildern untereinander registriert, geschieht auf der Berlinale unter Hochdruck. Sie ist zwar subjektiven Programmplanungen unterworfen, dafür aber wesentlich aufschlussreicher als die Reduktion des Festivals auf sein größtes Schaufenster, den Internationalen Wettbewerb, und dessen Beurteilung nach den Maßgaben der Weinkritik (guter Jahrgang, schlechter Jahrgang). Zumal das zwanghafte Auseinanderhalten de
rhalten der Vielzahl an Reihen und Sonderprogrammen den Sehgewohnheiten eines ortlos werdenden Kinos widerspricht. Gute Filme sind überall gut.So kann man etwa durch den Dokumentarfilm This ain’t California (Perspektive Deutsches Kino) Christian Petzolds Arbeitsweise bei Barbara (Wettbewerb, unter deutschen Kritikern bislang ein Favorit) besser verstehen. This ain’t California zeichnet durch den Rückgriff auf ein reiches Super-8-Film-Lager und nachinszeniertes Material ein Bild der Skater-Szene in der DDR, wo der Stadtraumaneignungssport als Rollbrettfahren firmierte. Marten Persiel hat die vielen Bild- und Tonschnipsel zu einem kunstvollen Mosaik komponiert, in dem die DDR-spezifische Genese des Sports Anfang der achtziger Jahre aus Dissidenz von Langeweile und Umgang mit dem „Betonspielplatz“ der Neubauwohnungsareale hervortritt.Schutz vor offenem FeuerEtwas geschwächt wird der Film durch seine Erzählweise: Die Akteure von einst erinnern sich an einem inszenierten Lagerfeuer an einen verstorbenen Freund und halten bei diesen Gesprächen, deren scheinbar lebensechter Duktus auch bei den Off-Kommentaren zu den Bildern erhalten geblieben ist, den leicht regressiven Sentimentalismus bei. Selbstbewusst werden hier Kindheiten unter selbstgebastelten Umständen verteidigt, wo doch das eigentliche Selbstbewusstsein darin läge, diese Kindheiten nicht erst vor einem gefühlten Vorwurf, dem Minderwertigkeitskomplex der DDR zu entschuldigen.Petzold ist in diesem Punkt souveräner. Sein erster historischer Film (nach Jerichow, Yella, Wolfsburg oder Die innere Sicherheit) bedient sich der DDR als gleichberechtigtes Material. Barbara fragt sich nicht, ob ein in der BRD geborener Regisseur über die DDR einen Film machen darf, und der Film ignoriert auch die Anforderung, ein Urteil vor der Geschichte über die DDR zu fällen. Die DDR ist für Petzold ein Rahmen mit eigenen Regeln und Codes, der sich in eine Christian-Petzold-Landschaft verwandeln lässt und den Rahmen für die Geschichte einer Zwangslage bietet: Barbara Wolff, Ärztin (Nina Hoss), will zu ihrem Geliebten in den Westen, scheut vor der Aussicht, als Hausfrau glücklich zu werden, aber zurück und findet zu einer Art gesellschaftlicher Verantwortung. Petzold erzählt dies in üblicher emotionaler Reduziertheit, die sich genau vor den gemütlichen Identitätsbehauptungen schützen will, die This ain’t California am Lagerfeuer produziert.Flache DramaturgienVon Petzolds Barbara führt eine Linie zu Francine, einem amerikanischen Independentfilm von Brian M. Cassidy und Melanie Shatzky. Die gleichnamige Titelheldin, gespielt von Melissa Leo, schottet sich gegen die Außenwelt in ähnlicher Weise ab wie die dissidente Ärztin. Francines DDR ist das Gefängnis, aus dem sie anfangs entlassen wird und in das sie eine auf der nüchternen Tonebene fulminante Schlussszene wieder bringen wird. Ihren fehlenden gesellschaftlichen Bezug versucht Francine durch die Zuneigung zu Tieren zu kompensieren, die bald in dramatischer Weise ihr Haus verheeren.Vom Rand erzählt der „vertikale“ Film der Schweizer Regisseurin Ursula Meier. Sie schildert in L’enfant d’en haut die Umverteilungslogistik eines kleinen Jungen (beeindruckend: Kacey Mottet Klein), der sich das Überleben im trostlosen Tal eines Skigebiets durch Diebstahl in den höheren Regionen zusammenstiehlt. Seine Suche nach Nähe gilt der jungen, kindhaften Mutter (Léa Seydoux), die sich als Schwester ausgibt und zum gemeinsamen Unterhalt nichts beiträgt.Auffällig an diesen und anderen strengen Beschreibungen von Gegenwart sind die flachen Dramaturgien, die gegen Ende häufig nicht recht wissen, wie sie ausgehen sollen. Selbst ein genau und konventioneller erzähltes Portrait einer bürgerlichen Familie wie Hans-Christian Schmids Film Was bleibt rettet sich in einen unbefriedigend deutlichen Epilog, um einen Weg aus den innerfamiliären Konflikten zu finden.Kleine ÖffentlichkeitPolitisch lässt sich dieses Problem einer Zeit nach den klassischen Dramaturgien, den geordneten Erzählungen, als Ratlosigkeit in Bezug auf Ziele lesen. Und hier kommt nun Sigmar Gabriel ins Spiel, da selbst die SPD in den Scheinwerfer der Aufmerksamkeit tritt, den die Berlinale am liebsten auf Stars der Kategorie Angelina Jolies richtet (die ihr misslungenes Konfliktkümmerregiedebüt In the Land of Blood and Honey vorführte). Beim 9. Filmempfang seiner Partei im Willy-Brandt-Haus hielt der Vorsitzende eine kurze Einführung, in der Gabriel die SPD als die Partei erkannte, die an der Frage arbeite, „wie wir leben wollen“.Das war bemerkenswert, insofern diese Frage die SPD nicht allein stellt. Prominente Gesichter der Deutschen Fernsehakademie fragten sich bei einem Podiumsgespräch am Rande der Berlinale irgendwann, welches Fernsehen wir wollten. Und die Akteure von Romuald Karmakars Montage einer Veranstaltung im Berliner Haus der Kulturen der Welt vom Dezember (Angriff auf die Demokratie – Eine Intervention) fanden bei ihren Kritiken an Krise und Kapital ebenfalls zu der Frage nach dem Selbstentwurf der Lebenswirklichkeit. Die Pointe besteht in der Einmütigkeit: Wenn so die gesellschaftliche Mitte aus SPD, ARD-Gesichtern sowie FAZ-, SZ- und Zeit-Publizisten sich fragen müssen, welche Wirklichkeit wir wollen, wie groß muss dann die Unfreiheit sein? Andersherum hieße das: Die Öffentlichkeit der Berlinale ist viel kleiner, als man gemeinhin annehmen mag.