"Das Militär zuerst!" Kim Jong-Il bietet den USA und der UNO mit Raketen und Abschreckungsrhetorik erneut die Stirn – ein Pokerspiel mit riskantem Kalkül
Gäbe es in der internationalen Diplomatie so etwas wie ein Brevier personifizierter Anti-Ideale und ideeller Gesamtschurken, nähmen der im Juli 1994 verstorbene „Große Führer“ Kim Il-Sung und sein Nachfolger und Sohn, der „Geliebte Führer“ Kim Jong-Il, darin gewiss den Spitzenplatz ein. Zumindest aus Sicht des Westens. Die Nomenklatur der Demokratischen Volksrepublik Korea (Nordkorea) sieht das freilich anders.
Der vorzugsweise von südkoreanischen und japanischen Medien zuletzt in eine schwere Krankheit und die politische Versenkung geschriebene Kim Jong-Il feierte am 16. Februar quietschfidel seinen 67. Geburtstag. Am 8. März erfolgte die Neuwahl der Obersten Volksversammlung mit ihren 687 Mitgliedern. Wie zuvor offiziell angek
angekündigt, zündete Pjöngjang nach eigenem Bekunden am 5. April erfolgreich eine Unha (Milchstraßen)-Rakete, um damit den Kommunikationssatelliten Kwangmyongsong-2 (Strahlender Stern) ins All zu befördern – nach Ansicht amerikanischer, japanischer und russischer Experten letztlich ein Fehlschlag.Am 9. April schließlich wurde Kim Jong-Il von der Obersten Volksversammlung für weitere fünf Jahre als Vorsitzender der Nationalen Verteidigungskommission bestätigt, die bedeutsamste politische Position Nordkoreas. Am 13. April verurteilte zwar der UN-Sicherheitsrat den Raketenstart, doch Russland und China verhinderten eine in ihren Konsequenzen härtere UN-Resolution. Das wiederum wertete tags darauf das nordkoreanische Außenministerium als ungerecht: „Wir haben keine andere Wahl, als unsere nukleare Abschreckung zu verstärken, um neuen militärischen Bedrohungen von feindlichen Kräften zu begegnen.“ Die Nachrichtenagentur KCNA meldete, Nordkorea sähe die Souveränität des Staates verletzt. Man wolle auch weiter in den Weltraum vorstoßen und erwäge den Bau eines Leichtwasserreaktors. Vorerst letzter Akt: Man kehrte der von Peking initiierten Sechserrunde (neben China sind die beiden koreanischen Staaten, Russland, Japan und die USA vertreten) den Rücken und forderte das Inspektorenteam der Internationalen Atomenergie-Behörde (IAEA) auf, das Land zu verlassen. Über Nacht stand Nordkorea aufs Neue als Schmuddelkind der Staatengemeinschaft am Pranger.Hillary Clintons Affront Die Feindbildprojektion lief auf Hochtouren, während sich die im Krisenmanagement erprobten Strategen Pjöngjangs nicht davon abbringen ließen, ihr eigenes etatistisches Kalkül zu verfolgen und einen Regimewechsel à la Irak um jeden Preis zu vermeiden.Hatte die nordkoreanische Führung, die Präsidentschaft Obamas zunächst wohlwollend aufgenommen, änderte sich das mit der ersten Auslandsreise von Außenministerin Hillary Clinton, die neben Indonesien, Japan und China auch Südkorea besuchte. Dort lobte sie nach einem Treffen mit Außenminister Yu Myung-Hwan das Gastland als Hort von „Demokratie und Wohlstand“, der auffällig mit der „Tyrannei und Armut“ im Norden kontrastiere. Für Nordkorea ein Affront und keine Geste, die auf den Willen der US-Regierung zum vertrauensvollen Neubeginn im bilateralen Verhältnis schließen ließ.Seit Februar 2008 bereits hofiert man in Washington die stramm antikommunistische Administration des Präsidenten Lee Myung-bak in Seoul, der eine zuvor auf Entspannung mit Nordkorea bedachte „Sonnenscheinpolitik“ unzeremoniell über den Haufen warf. Präsident George Bush hatte bis dahin alles getan, den innerkoreanischen Dialog als „naiv“ zu desavouieren und zu kappen. Trotz dieser Störmanöver hatte das Nord-Süd-Verhältnis auf sämtlichen Ebenen bis dahin besser funktioniert als jemals zuvor in den Jahrzehnten nach der Teilung von 1945.Es ist fast 15 Jahre her, dass sich die Unterhändler Nordkoreas und der USA im Oktober 1994 in Genf auf eine Rahmenvereinbarung („Agreed Framework“) einigten, die Pjöngjang auferlegte, sein Nuklearprogramm einzufrieren, während die USA zusagten, der Volksrepublik bis 2003 zwei 1.000-Megawatt-Leichtwasserreaktoren und bis dahin jährlich 500.000 Tonnen Schweröl und Kohle im Gesamtwert von umgerechnet knapp 4,6 Milliarden Dollar zu liefern. Es sollte überdies Verbindungsbüros in den jeweiligen Hauptstädten geben, vor allem aber – und das war das Entscheidende – garantierte Washington in einem Zusatzprotokoll die Souveränität und Integrität Nordkoreas. Da eine derartige Sicherheitspolice heute fehlt, setzt Pjöngjang auf einen „starken und gedeihenden Staat“ (kangsòng taeguk) mit der Losung: „Das Militär zuerst!“Schon in der Ära Bush (2001–2009) musste man begreifen, dass die mit dem Agreed Framework gegebenen Zusagen teilweise nicht einmal das Papier wert waren, auf dem sie standen. Als der damalige US-Präsident dann auch noch ihren Staat auf der „Achse des Bösen“ verortete, suchten der „Geliebte Führer“ Kim Jong-Il und seine Genossen ihr Heil in einer Strategie, die das Weiße Haus verstand: Sie ordneten wieder Raketentests an und ließen im Herbst 2006 einen als Nuklearwaffe bezeichneten Sprengsatz zünden, um sich in die Liga der Nuklearmächte einzureihen.Sicherheitsgarantie der USASo sollte wohl auch mit dem Start der Unha-Rakete am 5. April 2009 der Obama-Administration signalisiert werden, es wird Zeit, zu direkten bilateralen Verhandlungen zwischen Pjöngjang und Washington zurückzufinden. Mehrfach hat die nordkoreanische Führung zu verstehen gegeben, sie könne ihr Nuklearprogramm aufgeben, wenn das seit dem Koreakrieg geltende Waffenstillstandsabkommen von 1953 endlich in einen Friedensvertrag überführt werde und es von amerikanischer Seite eine jederzeit gültige Sicherheitsgewähr für den nordkoreanischen Staat gäbe.Pjöngjang hat allen Grund, der Politik der internationalen Staatengemeinschaft zu misstrauen – schon wegen der erkennbaren Doppelmoral. Darauf hat gerade erst Scott Ritter, einst UN-Waffeninspekteur im Irak (1991-98), hingewiesen. Während die Welt den ausschließlich militärischen Zwecken dienenden japanischen Raketentest vom 23. Januar und das Zünden einer D-5-Rakete durch die US-Marine im Februar ignoriere, würden Nordkorea und Iran permanent wie Parias behandelt. Ganz zu schweigen von ebenfalls kürzlich durchgeführten Tests der Atommächte Israel, Pakistan und Indien, allesamt Nichtunterzeichner des Atomwaffensperrvertrags.