SPD und Grüne wollen Wahlversprechen umsetzen. So beginnt das Experiment der Minderheitsregierung in Nordrhein-Westfalen. Der Koalitionsvertrag wurde am Dienstag der Öffentlichkeit vorgelegt. Danach sollen für Kinder und notleidende Kommunen über eine Milliarde Euro mehr investiert, die Zahl der Kindergartenplätze erhöht und die Qualität der frühkindlichen Förderung verbessert werden. Zum Beginn des Wintersemesters 2011 sollen die Studiengebühren fallen, dafür bekommen die Hochschulen mehr Geld aus dem Landeshaushalt. Für diese Projekte und auch zur Stützung der Westfälischen Landesbank wird die Neuverschuldung erhöht. Die Schulreform beginnt vorsichtig: Die Verwandlung von 30 Prozent der weiterführenden Schule
Politik : Rot-grüne Brücke ohne rechtes Ufer
Vielleicht strebt sie eine „Ampel“ an. Aber zunächst muss Kraft in NRW mit wechselnden Mehrheiten regieren
Von
Michael Jäger
ulen in Gemeinschaftsschulen bis 2015 ist das Ziel, Voraussetzung ist aber, dass Schulen, Eltern und Kommunen sich gemeinsam für einen solchen Weg entscheiden.Das ist ein Programm, wie man es nach dem Wahlkampf der beiden Parteien erwarten konnte; die Frage ist nur, ob es zur Absicht des Regierens mit wechselnden Mehrheiten passt. Diese Absicht ist das eigentlich Neue am Düsseldorfer Experiment. Schon Sachsen-Anhalt hatte in den 90er Jahren eine rot-grüne Minderheitsregierung, die jedoch von allen Parteien als durch die damalige PDS „tolerierte“ Regierung verstanden wurde. Es handelte sich demnach im Grunde um ein linkes Mehrheitsbündnis, dessen Teilnehmer die Differenzen betonen und sich nur halb festlegen wollten. In NRW haben SPD und Grüne jetzt aber ausdrücklich betont, dass ihre Regierung sich nur ihrer eigenen einfachen Mehrheit verdanken soll, wie das die Landesverfassung ermöglicht. Einmal gewählt, wollen sie ihre eigenen Projekte verfolgen und dafür Mehrheiten suchen, wo sie sich finden lassen, mal links, mal rechts.Klassisch linke ProjekteAuf diese Weise stellen sie klar, dass sie sich sich nicht mit der Linkspartei verbünden. Das ist ihnen wichtig. Und doch sind die genannten Projekte ganz klassisch links. Entscheidungen der abgewählten CDU-FDP-Regierung werden modifiziert oder zurückgenommen, und natürlich kann das nur mit mindestens einer Stimme der Linken gelingen.Es ist dennoch kein Widerspruch. In Fragen, für die sich die Öffentlichkeit weniger interessiert, wie der Existenz und Ausstattung des Verfassungsschutzes, gibt es Konsens mit der CDU und Differenz mit der Linken. Zwar ist die Behauptung kaum glaubwürdig, wegen solcher Differenzen sei eine Koalition mit der Linken unmöglich gewesen. Die Linke hätte sich wohl in allerlei Kompromisse gefunden. Aber SPD und Grüne wollten nun einmal allein regieren. Hannelore Kraft, die voraussichtlich am 14. Juli zu wählende neue Ministerpräsidentin, dürfte zu denen in der SPD gehören, die wie Parteichef Sigmar Gabriel auf eine Ampelkoalition mit der FDP im Bund hinarbeiten. So hat sie guten Grund, auch nach rechts Brücken zu bauen.Ein Widerspruch ist es nicht, aber ein pragmatisches Problem. Denn zu einer Brücke gehören zwei Ufer. CDU und FDP müssten sie mittragen. Ähnlich wie ein Befehl nur ein Befehl ist, wenn es welche gibt, die ihm gehorchen, kann von „wechselnden Mehrheiten“ nur die Rede sein, wenn tatsächlich auch einmal eine Mitte-Rechts-Mehrheit gegen die Linke zustande kommt. Es ist aber die Frage, ob diese Parteien zu solchen Mehrheiten bereit sind – selbst wenn es sich um Regierungsvorschläge handelt, denen sie zustimmen – oder ob sie nicht eher versuchen werden, SPD und Grüne der Linken „in die Arme zu treiben“, in der Hoffnung, die Wähler wenden sich von diesen Parteien dann ab. Zur Zeit ist das ganz klar ihre Strategie. Kaum hatten Kraft und Sylvia Löhrmann von den Grünen bekundet, dass sie nicht auf Basis eine Tolerierung durch die Linke regieren würden, äußerte sich wie schwerhörig Angela Merkel: Erneut breche die SPD ihr Wahlversprechen, verbünde sich nun doch mit der Linken. Das wird so weiter gehen.Aber ob sich Merkels Strategie wiederum durchhalten lässt, ist eine offene Frage. Denn Kraft wird vermutlich darauf setzen, dass in der FDP eine mehr sozialliberale Strömung die Oberhand gewinnt – nach weiteren Regierungsmisserfolgen in Berlin – und dann doch noch eine Düsseldorfer Ampel zustande kommt. Auf dem Weg dahin kann sie schon einmal diese oder jene Mehrheit mit der FDP zu schmieden versuchen. Die Polemik der CDU gegen ein Linksbündnis liefe dann ins Leere.Nicht bloß ZwischenaktInteressanter als diese strategischen und taktischen Möglichkeiten ist das Modell wechselnder Mehrheiten als solches. Im Grunde scheint es nur eine marginale Rolle zu spielen; man hat den Eindruck, es sei als Zwischenakt auf dem Weg zu gängigen Konstellationen geplant. Aber wie auch immer die aktuellen Absichten sind, das Modell muss sich erst einmal im Kampf bewähren. Es ist in Deutschland ein ganz neuer Schritt. Die politische Klasse fühlt sich hier immer noch an die Weimarer Republik erinnert. Dabei bestünde längst kein Grund mehr, sich vor Minderheitsregierungen zu fürchten. Denn tiefe Gräben von der Art, wie sie die Weimarer Parteien trennten, sind in den deutschen Parlamenten Vergangenheit. Es gibt so viel Konsens, dass die Parteien Gegensätze oft nur simulieren, bis zum Wahltag; danach regiert die eine nicht viel anders als die andere. Zur Bewältigung der Konflikte, die übrig bleiben, wären wechselnde Mehrheiten tatsächlich die rationalste Methode. Denn das wären Mehrheiten für Sachfragen und -antworten, Fall für Fall, und nicht für die eine oder andere Koalition.Sogar die Linkspartei braucht sich solcher Rationalität nicht zu entziehen. Sie strebt zwar einen Politikwechsel und neue Eigentumsverhältnisse an – man kann sie nicht als Element einer Konsensgemeinschaft begreifen. Aber gerade deshalb wäre eine linke Koalition, an der sie teilnähme, nicht automatisch besser als die jetzt vorhandenen Konstellationen, sondern nur dann, wenn ihre Handschrift darin durchschlüge. SPD und Grüne versuchen, sie zur bloßen Mitläuferschaft zu erziehen: Solange das so bleibt, fährt auch die Linkspartei besser damit, anderen Parteien nur fallweise zuzustimmen.