Sarrazin hetzt

Integration Der ehemalige Berliner Finanzsenator hat ein neues Buch geschrieben. Wider besseres Wissen appelliert er an trübe Instinkte

Thilo Sarrazins Türkenhatz ist nichts Neues. Als der frühere Berliner Finanzsenator im vergangenen Oktober sagte, die Türken eroberten "Deutschland genauso, wie die Kosovaren das Kosovo erobert haben: durch eine höhere Geburtenrate", entzog ihm die Bundesbank die Verantwortung für den Bereich Bargeld, den er als Vorstandsmitglied bis dahin neben anderen Bereichen verantwortet hatte. Er ist immer noch zuständig für Risiko-Controlling und Informationstechnologie. Diese subtile Trennlinie zeigt schon das ganze Problem. Man hätte so einen wie Sarrazin doch auch ganz rausschmeißen können. Aber er musste nur ein symbolisches Opfer erbringen. Es ging nur darum, die Öffentlichkeit zu beruhigen.

Als jemand, der weiterhin respektabel aussieht, kann er seinen Kreuzzug fortsetzen. Ende August erscheint sein Buch, das schon im Titel alles sagt: "Deutschland schafft sich ab. Wie wir unser Land aufs Spiel setzen", und der SPIEGEL lässt sich herbei, in seiner jüngsten Ausgabe auf viereinhalb Seiten einen Auszug zu veröffentlichen. Was soll man dazu noch sagen? Nun, der Mann reist auch herum, es wird viele Lesungen geben und seine Veranstaltungen sind immer gut besucht. Veranstaltungen, in denen eine gewisse Sorte von Deutschen zusammenkommt und sich sammelt. Es wäre gut, wenn auch welche dabei wären, die ihnen einen Strich durch die trübe Rechnung ihrer Denkwege machen. Vielleicht wird es manchen Thilo-Anhängern dann doch zu peinlich, und sie stehlen sich davon.

Keine Willkommenskultur

Die Denkwege sind wirklich eine Zumutung. Sarrazin selber glaubt gar nicht ernsthaft an die Sache mit der Geburtenrate. Er weiß ganz genau und schreibt es, dass die türkische Geburtenrate entweder dauerhaft höher ist als die der Deutschen oder sich mit der Zeit der niedrigen deutschen Geburtenrate anpasst. Das hindert ihn nicht, davor zu warnen, dass sich "2100" 35 Millionen Türken und nur noch 20 Millionen Deutsche in Deutschland gegenüberstehen könnten. Zumal sich die Türken nicht an unsere Gewohnheiten "anpassen" wollen, wie er immer wieder betont. Ja, erleichtern wir es ihnen denn? Da sagt er, das sei keineswegs unsere Aufgabe. Und so kommt die Wahrheit heraus, durch seine eigenen Worte: 58 Prozent der Menschen türkischer Herkunft beklagen, dass es in Deutschland keine "Willkommenskultur" gebe, und diese will Sarrazin nicht gewähren. Er wirft den Menschen türkischer Herkunft vor, dass sie sich nicht integrieren wollen, ist aber selbst der Sprecher derjenigen, die es verhindern. Man stelle sich eine Familie vor, die ein Adoptivkind aufnimmt, es aber nicht willkommen heißt und ihm dann Integrationsunwilligkeit vorwirft!

Wahrhaft absurd wird es, wenn er den türkischen Ministerpräsident Erdogan angreift, weil der in seiner Kölner Rede gesagt hat: "Niemand kann von Ihnen", den Menschen türkischer Herkunft, "erwarten, dass Sie sich einer Assimilation unterwerfen. Denn Assimilation ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit." Das sei "chauvinistisch", behauptet Sarrazin, als ob er nicht wüsste, dass seine eigene Partei, die SPD, aus der er immer noch nicht ausgeschlossen ist, vor nicht langer Zeit die doppelte Staatsbürgerschaft durchsetzen wollte. Wenn es ihr auch nicht gelang, kann seitdem in Deutschland niemand mehr bestreiten, dass das Verlangen, die Türken sollten nicht bloß integriert werden, sondern sich assimilieren, tatsächlich gegen die Menschlichkeit verstößt. Ob es Sarrazin passt oder nicht: Türken, die hier leben, müssen ihre Herkunft nicht negieren.

Er schreibt: "Es reicht aus, dass Muslime unsere Gesetze beachten, ihre Frauen nicht unterdrücken, Zwangsheiraten abschaffen, ihre Jugendlichen an Gewalttätigkeiten hindern und für ihren Lebensunterhalt selbst aufkommen. Darum geht es. Wer diese Forderungen als Zwang zur Assimilation kritisiert, hat in der Tat ein Integrationsproblem." Und hat nun Erdogan seine Landsleute aufgefordert, die Frauen zu unterdrücken, nicht für den eigenen Lebensunterhalt zu sorgen und Jugendliche nicht an Gewalttätigkeiten zu hindern? Sarrazin hetzt. Er wirft alles durcheinander. Wehret den Anfängen!

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Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur „Politik“ (Freier Mitarbeiter)

Michael Jäger studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. für poststrukturalistische Philosophie an der Universität Innsbruck inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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