Tief in den bekannt gewordenen Guantánamo-Dokumenten vergraben, findet sich ein kleiner, aber wichtiger Schatz an Informationen. Sie sind zu historisch und zu technisch, als dass sie in den Zeitungen große Beachtung gefunden hätten, die in der vorletzten Woche eher darauf aus waren, angesichts eines „nuklearen Al-Qaida-Höllensturms“ zu hyperventilieren. Jede der über 700 Akten enthält eine kurze Biografie der Gefangenen, über die sie angelegt wurden. Darin geht es um deren „Vorgeschichte“, ihre „Rekrutierung“ und die Reisen zu den Orten, an denen sie sich dann dem gewaltsamen Extremismus anschlossen. Mit schonungsloser, wenngleich auch unbeabsichtigter Effizient zerstören diese Schriftstücke drei der hartn
Politik : Die Mythenmaschine stottert
Ein Aspekt der Guantánamo-Dokumente wurde bislang ignoriert: Sie räumen mit den hartnäckigsten Mythen auf, was die Reichweite und die Fähigkeiten von Al-Qaida betrifft
Von
Jason Burke
The Guardian
Übersetzung: Zilla Hofman
#228;ckigsten Mythen über Al-Qaida.Der erste Mythos besagt, die Organisation bestehe aus Männern, welche die CIA für den Kampf gegen die Sowjets in Afghanistan ausgebildet habe und die sich dann gegen ihre Lehrmeister wandten. Tatsächlich befinden sich unter den in Guantánamo Bay inhaftierten Al-Qaida-Aktivisten nur sehr wenige echte Veteranen, die in den 1980ern gekämpft haben. Keiner von ihnen stammt aus Gruppierungen, die wesentliche technische oder finanzielle Hilfe von den USA – auch nicht indirekt über Pakistan – erhalten haben.Der zweite Mythos lautet, für die Niederlage der Sowjets sei eine „internationale Brigade“ islamistischer Extremisten verantwortlich gewesen. Die Akten zeigen hingegen deutlich, dass deren Zutun zu vernachlässigen war.Der dritte Mythos besagt, dass die Mehrzahl derjenigen, die derzeit einen „Dschihad“ gegen die Allianz von Kreuzfahrern und Zionisten oder die „heuchlerischen, abtrünnigen Regime“ der muslimischen Welt führen, aktiv von Al-Qaida rekrutiert und im Anschluss an eine „Gehirnwäsche“ nach Afghanistan gebracht wurden, um dort ausgebildet zu werden oder zu kämpfen. Aus den Darstellungen aller Guantánamo-Häftlinge, die wirklich mit Al-Qaida zu tun hatten, geht hervor, dass diese in Wirklichkeit viel Zeit und Geld aufgewandt und viele Schwierigkeiten überwunden haben, um irgendwie mit der Organisation in Kontakt zu kommen. Es handelte sich nicht um dumme oder verletzliche Jugendliche, die zu Selbstmordattentätern „verdammt“ wurden, sondern um hoch motivierte, oft gebildete und intelligente junge Männer.Keine unbedeutenden DetailsEs ist leicht, solche Details angesichts der Bedrohung, die der militante Islamismus heute darstellt, als unbedeutend abzutun. Sie sind es aber nicht. Denn die Entwicklung der Diskussion und Analyse des Phänomens Al-Qaida wurde unter anderem dadurch geprägt, wie außergewöhnlich stark sie von Mythen beeinflusst wurde.Es hat verschiedene Phasen der Mythenbildung um Al-Qaida gegeben. Die erste ist in den 1990ern zu verorten, als die Gruppe durch die Anschläge auf US-Botschaften in Ostafrika und ein Kriegsschiff im Jemen weltweit berüchtig wurde.Damals wurde die Vorstellung, Al-Qaida sei ein „Blowback“ (dt. „Rückstoß“) des Krieges in Afghanistan, zum Allgemeinplatz. Nach dem 11. September 2001 folgte eine neue Woge von Angstfantasien. Zum einen gab es die herkömmliche abfällige Propaganda, wie sie in Kriegszeiten zu erwarten ist – dass Bin Laden missgebildete Geschlechtsteile habe oder wild mit Prostituierten feiere – und die kaum Wirkung zeigte. Verheerender war da die Legende, Al-Qaida sei eine „tentakelartige Organisation“ mit Schläferzellen in der ganzen Welt, die auf den geeigneten Moment warteten, mit Massenvernichtungswaffen zuschlagen zu können. Dadurch wurde bagate, welche Rolle der Ideologie und einer Reihe historischer Faktoren (von der Bevölkerungsstruktur in islamischen Ländern bis hin zu einem Diskurs, der die „Demütigung“ der Muslime durch den Westen betonte) für den Erfolg der Gruppe heruntergespielt.Der Schwerpunkt auf bin Laden und seine Entourage schmälerte das Interesse an den übergeordneten Anliegen des Terrorismus' und machte so die fundamentalen strategischen Fehler, die die USA und andere zu Beginn des zurückliegenden Jahrzehnts machten, sehr viel wahrscheinlicher.Ein über 1,90m großer Araber soll in Kaschmir untergetaucht seinViele Mythen um Al-Qaida wurden vorsätzlich von Regierungen geschaffen. In den Jahren 2002 und 2003 bemühten sich repressive und diktatorische Regime auf der ganzen Welt, lokale militante Bewegungen mit langer Geschichte als Al-Qaida-Ableger zu enttarnen oder umzuinterpretieren. In Neu Deli behauptete man, der über ein Meter neunzig große Araber bin Laden, einer der bekanntesten Flüchtige der letzten Jahrhunderte, halte sich in Kaschmir versteckt, einem kleinen Landstrich Indiens, in dem sich 500.000 Soldaten und Polizisten auf den Füßen stehen.Die Russen behaupteten, im Tschetschenienkonflikt gehe es nicht um jahrhundertealte Territorialkriege im Kaukasus, sondern um den „weltweiten Dschihad“. Die Entdeckung eines lokalen Al-Qaida-Ablegers garantierte umfangreiche finanzielle, diplomatische und militärische Unterstützung aus Washington – oder sorgte zumindest dafür, dass bei der Unterdrückung der eigenen Bevölkerung ein Auge zugedrückt wurde. Also trieben die Mazedonier ein paar schiitische Einwanderer aus Pakistan zusammen, zogen ihnen Kampfmontur an und erschossen die „Al-Qaida-Agenten“.Und dann waren da noch die ungeheuerlichsten Auswüchse dieser Mythenschmiede: Die fadenscheinig behauptete Verbindung Sadam Husseins zu Al-Qaida und die nicht-existenten Massenvernichtungswaffen.Der Großteil der Guantánamo-Dokumente stammt aus den Jahren 2003 bis 2005 und spiegelt die Sorgen jener Zeit. Die Gutachten eines jeden Gefangenen zeigen, dass der Schwerpunkt auf der Bedrohung durch einen möglichen Anschlag mit vielen Todesopfern lag, bei dem chemische oder biologische Waffen zum Einsatz kommen könnten.Auch Al-Qaida betreibt eine MythenschmiedeWer sich noch an die Schlagzeilen erinnert, die vor neuen Jahren verkündeten, Al-Qaida plane, Teile der Londoner U-Bahn mit dem Gift Rizin zu kontaminieren, dem scheinen die Nachrichten der vergangenen Woche, Al-Qaida verstecke in Europa eine Atombombe oder London sei ein Knotenpunkt der Aktivitäten der Organisation, als kämen sie aus einer weit entfernten Zeit, in der solche Nachrichten direkt Panik auslösten. Tatsächlich basieren viele der Schreckensmeldungen der vorletzten Woche auf den unter Folter zustande gekommenen „Geständnissen“ Khaled Scheich Mohammeds, die aus jener Zeit stammen und sie stellen sich nun als erfunden oder von Al-Qaidas eigener Mythenschmiede in die Welt gesetzt heraus. Heute ist die Öffentlichkeit aber zum Glück besser informiert und lässt sich weniger schnell Angst einjagen. Das ist zu begrüßen, bedenkt man, dass das Terrorisieren das vornehmliche Ziel von Terroristen ist.Die Ereignisse dieses Frühlings haben gezeigt, dass Bin Laden und seine Kumpanen eindeutig auf eine geographische, politische, kulturelle und ideologische Marginalisierung innerhalb der islamischen Welt zusteuerten. Ihr Versuch hunderte Millionen von Menschen zu radikalisieren und zu mobilisieren ist fehlgeschlagen. Es waren Menschenmassen, die nicht Gewalt, sondern Demokratie verlangten, denen es gelang, zwei Diktatoren zu stürzen und mehrere weitere ins Wanken zu bringen. Der arabische Frühling begann mit einer öffentlichen Selbstverbrennung, einem Akt spektakulärer Gewalt, der deshalb beeindruckte, weil kein anderer Mensch dabei zu Schaden kam und der somit eine klare Absage an die Selbstmordanschläge des vergangenen Jahrzehnts darstellte. Die wenigen Statements der Al-Qaida-Führung oder angegliederter Gruppierungen klangen zuletzt müde und belanglos.Ein Grund der gegenwärtigen Schwäche der Gruppe ist die allmähliche Entlarvung der Mythen, die zu der Angst, die Al-Qaida einst wachrief und zur einstigen Aura für die Entfremdeten und Wütenden der islamischen Welt beitrugen.Zum Glück ist es wenig wahrscheinlich, dass diese Mythen wieder hergestellt werden.