Bundessozialgericht trifft Grundsatzentscheidung zum Anspruch auf Medizinalcannabis

Urteile in Kassel Das BSG hat sich erstmals zum Anspruch auf medizinisches Cannabis nach § 31 Abs. 6 SGB V geäußert. Dabei macht es deutlich, dass die Verordnung von Medizinalcannabis die Ausnahme bleiben soll und setzt hohe Anforderungen an diesen.

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Mit den am 10.11.2022 getroffenen Entscheidungen hat das BSG grundlegende Rechtsprobleme der Regelung aufgegriffen, aber nur teilweise geklärt. Die Entscheidungen lassen auch für künftige Rechtsstreitigkeiten mit den Krankenkassen noch viele Fragen offen.

Um was ging es im Einzelnen? Im seit März 2017 in Kraft stehenden § 31 Absatz 6 SGB V wird die Möglichkeit einer Behandlung mit medizinischem Cannabis gegeben. Diese muss von den Krankenkassen aber ausdrücklich genehmigt werden und ein Anspruch besteht nur unter bestimmten Voraussetzungen. So muss eine schwerwiegende Erkrankung vorliegen, für welche es entweder gar keine dem medizinischem Standard entsprechende Behandlung gibt, oder diese kommt im konkreten Einzelfall nicht in Betracht, zum Beispiel wegen schwerer Nebenwirkungen. Zudem muss bei letzterem durch den behandelnden Arzt oder die behandelnde Ärztin eine Stellungnahme über die Gründe für die Behandlung gegenüber der Krankenkasse abgegeben werden. Das Gesetz spricht von einer ‚begründeten Einschätzung‘. Wie genau die einzelnen gesetzlichen Voraussetzungen zu verstehen sind, ist umstritten. Auch die Rechtsprechung in den unteren Instanzen war bisher uneinheitlich, weshalb eine höchstrichterliche Entscheidung begrüßenswert ist. Eine Klärung der Rechtslage oder gar eine Vereinheitlichung der Rechtsprechung dürfte mit den nun gefallenen Entscheidungen aber nicht zu erwarten sein.

Zu den Entscheidungen im Einzelnen: Insgesamt war über vier Revisionen zu entscheiden. In allen Fällen ging es um die Verordnung von Cannabisblüten. Bei den Klägern bestanden die Diagnosen ADHS, Epilepsie, PTBS, chronische Schmerzen, sowie Fibromyalgie. Dies zeigt auch beispielhaft die vielfältigen Anwendungsmöglichkeiten für Cannabisbehandlungen. Das BSG hat drei der Revisionen abgewiesen und eine zur weiteren Sachverhaltsaufklärung an das zuständige Landessozialgericht zurückgewiesen.

Mit seinen Entscheidungen hat es folgende Probleme aufgegriffen und wie folgt beantwortet:

1. Muss eine ärztliche Verordnung (also das Kassenrezept) bereits bei Antragstellung vorliegen?

Dies war umstritten. Teils sind Klagen bereits an der mangelnden Verordnung gescheitert. Das BSG hat jetzt klargestellt, dass eine Verordnung nicht erforderlich ist. Wohl aber müssen der Krankenkasse Informationen zur geplanten Verordnung gegeben werden. Es muss geklärt werden was verschrieben werden soll, in welcher Dosis (mit Einzel- und Tagesdosierung) und auch die Form der Anwendung.

2. Wann liegt überhaupt eine schwerwiegende Erkrankung vor?

Dabei hat sich das BSG auf den Grad der Schädigung nach der Versorgungsmedizin-Verordnung bezogen, welche auch für den Grad der Behinderung angewandt wird. Schwerwiegend ist eine Erkrankung, wenn ein Grad 50 oder mehr erreicht. Die Feststellung muss aber nicht zuvor extra eingeholt werden.

3. Wann fehlt es an einer Alternativtherapie?

Dies wurde kurz abgehandelt, stellt aber auch meist nicht den Schwerpunkt der Fälle dar. Alternativlosigkeit besteht, wenn entweder gar keine Standardtherapien vorhanden sind oder diese nicht in Betracht kommen, z.B. wegen der Nebenwirkungen oder weil sie nicht den gewünschten Erfolg brachten.

4. Was muss die ‚begründete Einschätzung‘ enthalten?

Hier lag der Schwerpunkt der Entscheidungen und der Teil mit der größten Auswirkung. Das BSG hat eine Liste mit Vorgaben für die Anfertigung der ‚begründeten Einschätzung‘ gegeben, die so umfassend ausgefallen ist, dass künftig noch weniger Ärzte eine solche Behandlung in Betracht ziehen werden, wenn sie über die gesetzliche Krankenversicherung abgerechnet werden müsste.

Die Einschätzung muss enthalten:

- Eine Dokumentation des Krankheitszustands aufgrund eigener Untersuchung. Wenn erforderlich müssen Befunde weiterer Ärzte hinzugezogen werden.

- Eine Darstellung der zu behandelnden Erkrankung(-en) mit Symptomen und geplantem Behandlungsziel.

- Eine Darstellung der bereits angewandten Standardtherapien im Hinblick auf das Behandlungsziel und die dabei aufgetretenen Nebenwirkungen.

- Eine Darstellung der noch verfügbaren Standardtherapien, der zu erwartende Erfolg dieser im Hinblick auf das Behandlungsziel und die zu erwartenden Nebenwirkungen.

- Eine Abwägung der zu befürchtenden Nebenwirkungen der noch vorhandenen Standardtherapien mit dem möglichen Risiko der Cannabistherapie. Dabei dürfen nur Nebenwirkungen in die Abwägung einfließen, die das Ausmaß behandlungsbedürftiger Krankheiten erreichen.

Bei der Abwägung ist zudem, soweit bestand, ein Cannabiskonsum aus der Vergangenheit einzubeziehen. Dabei hat das BSG einen interessanten Punkt aufgemacht und geklärt, der vorher immer wieder ein Problem dieser Fälle war: Die Krankenkassen haben bei einem vorherigen Konsum immer eingewandt, es bestehe eine mögliche Abhängigkeit, die einer Behandlung mit Cannabis entgegensteht. Dieser generellen Ablehnung hat das BSG jetzt eine Absage erteilt. Ein solcher Vorkonsum schließt den Anspruch nicht generell aus. Es wird vielmehr dem behandelnden Arzt oder der behandelnden Ärztin überlassen, ob die Therapie in Betracht gezogen wird. Dann muss in die Abwägung aber zusätzlich einfließen, wie das Konsumverhalten aussah, inwiefern sich dieses schädlich ausgewirkt hat, ob eine Abhängigkeit besteht und ob dies der Therapie entgegensteht.

Wenn dieser umfassende Katalog an Informationen gegeben wird, dann dürfen die Krankenkassen und ggf. die später damit befassten Gerichte die Einschätzung nur noch darauf prüfen, ob diese vollständig, nachvollziehbar und plausibel ist. Es ist aber zu erwarten, dass sich der bisherige Streit über die Behandlung an sich auf die Plausibilität der Einschätzung verlagert und über diesen Punkt letztlich die bisherige Prüfungspraxis der Krankenkassen bei Anträgen nach § 31 Abs. 6 SGB V fortgeführt wird. Es werden wohl weitere Entscheidungen notwendig werden, um die genauen Grenzen der Prüfung festzulegen.

5. Muss die begründete Einschätzung bereits bei Antragstellung vorgelegt werden, oder kann diese sogar noch im Gerichtsverfahren nachgereicht werden?

Hier ist genau auf die Wortwahl des BSG zu achten. Zwar hat es gesagt, dass auch im laufenden Verfahren noch ergänzt werden kann, aber eben nur ergänzt. Es soll lediglich die Möglichkeit bestehen, auf Vortrag der Krankenkassen zu reagieren, also Nachfragen zu klären. Sollten Informationen ganz fehlen, wird ein Nachholen wohl nicht möglich sein. Zudem beschränkt es den Anspruch zeitlich auf die Vorlage der Ergänzung.

6. Ist das Wirtschaftlichkeitsgebot zu beachten?

Das Wirtschaftlichkeitsgebot ist ein Grundsatz des Krankenkassenrechts, der besagt, dass von verschiedenen Behandlungsmöglichkeiten mit gleicher Eignung die kostengünstigste zu wählen ist. Hier hat das BSG, wenig überraschend, festgelegt, dass die Krankenkassen bei mehreren gleich geeigneten Varianten verlangen kann, dass die kostengünstigste angewandt wird. Also gegebenenfalls, dass statt Blüten der Extrakt zu verordnen ist, oder anders herum.

Interessierte können die Urteilsverkündung mit Darstellung der wesentlichen Entscheidungsgründe übrigens auch ansehen über den Kanal von phönix auf youtube: https://www.youtube.com/watch?v=fDMLqokZCBA

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