Anti-schiitische Animosität

Anschlag bei al-Rashidin Der Angriff auf einen Evakuierungskonvoi nahe Aleppos war mehr als ein brutaler Akt. Er verbirgt eine Entwicklung, die mal zu wenig thematisiert wird und mal falsch.

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Die unberechenbare Trajektorie, die der Syrische Bürgerkrieg eingenommen hat, wurde wieder Mitte April deutlich. Ein Evakuierungsabkommen, dessen Grundzüge bereits im September 2015 ausgehandelt wurden, sah die Räumung von vier Dörfern vor, die jeweils von verschiedener Oppositionsseiten und der syrischen Regierung belagert wurden. Sowohl Iran, als auch die Türkei, Qatar und das UN-Büro in Damaskus agierten als internationale Sponsoren und stützten das Abkommen. Zwar gelang es insgesamt 30.000 Menschen, darunter viele Zivilisten, die mehr als zwei Jahre unter Belagerung leben mussten, im Rahmen der Vereinbarung zu evakuieren, doch wurde die gesamte Aktion von einem Ereignis überschattet:

Aufgrund von Fehlern in der Absprache respektive Missverständnissen bei der Implentierung des Abkommens, kam es zu einem temporären Stopp der Evakuierung, während dem mehrere hundert Menschen teils stundenlang festsaßen und unter widrigen Bedingungen ausharren mussten. So auch im nördlichen Vorort von Aleppo, al-Rashidin, wo mehrere Evakuierungsbusse gezwungen waren ihre Fahrt zu unterbrechen. Ein vermeintliches Versorgungsfahrzeug fuhr währenddessen vor und verteilte aus seinem Innenraum heraus Snacks und Süßigkeiten an wartende Kinder, die sich in immer größeren Zahlen um den Wagen drängelten.

Wie sich später herausstellte, versteckte der Fahrer jedoch zudem in seinem Wagen einen Sprengsatz, den er nach einigen Minuten zündete. Die Explosion riss 126 Menschen in den Tod, unter ihnen 68 Kinder und verletzte ingesamt 275, teils schwer. Den Hauptteil der Toten stellten Zivilisten, es wurden aber auch mehrere Rebellen getötet, die zum Schutz der Busse abkommandiert waren. Die Attacke von al-Rashidin stellte ohne Frage einer der heftigsten Ereignise im Syrischen Bürgerkrieg dar, die weltweit für Entsetzen sorgte.

Fehlender Rahmen

Doch verfehlten die meisten Berichterstattungen in den Medien eine richtige Einordnung des Attentats. Ein Großteil der Artikel zum Anschlag verpasste es den Hintergrund anzugeben und bezeichnete die Opfer - wobei sich wohlgemerkt nahezu nur Kinder darunter befanden - zumeist als "Regimeanhänger". Doch damit wurde ein wichtiger Aspekt verfehlt.

Zum Hintergrund: Bereits nach der Rückeroberung von Ost-Aleppo im Ende August 2016 von pro-Regierungstruppen wurde auf Drängen Irans freies Geleit für Bewohner und Rebellen aus der Stadt versprochen, im Austausch für eine Evakuierung der beiden Dörfer Fua und Kifraya. Doch es kam zum Eklat: Busse, die die Bewohner dort abholen sollten, wurden von Rebellen angezündet und Videos kurz darauf hochgeladen, in denen sie sich verhöhnend äußerten.

Der Hintergrund liegt im religiösen Hintergrund der beiden Dörfer: Die Einwohner sind überwiegend imamitisch, d.h. 12-er schiitisch geprägt. In den Videos begründeten die Rebellen ihre Aktion mit einer anti-schiitischen Rhetorik, die letztlich die gesamte Evakuierung der Rest Viertel Ost-Aleppos in Gefahr brachte. Damals konnte man eindeutig erkennen, welche sektiererische Spannungen vorhanden gewesen sind und welches Eskalationspotenzial diese in sich bargen.

Das Attentat bei al-Rashidin, bei dem gezielt Kinder getötet wurden, muss man dementsprechend in diesen Rahmen einbetten. Anti-schiitische Rhetorik der Rebellenseite ist über die Jahre hinweg gewachsen und keines Weges nur ein Bestandteil der salafistischen Oppositionskräfte, sondern ebenso in diversen FSA-Verbänden zu finden. Dabei lässt sich jene Entwicklung beobachten, die in anderen Konflikten ebenfalls zum Vorschein kam: Eine Vermischung einer anti-iranischen Animosität, die eher politisch geprägt ist, mit einer religiösen Komponente.

Demagogie als Ideologie: Der Takfirismus

Dass Rebellenverbände, die gegen iranische Einheiten teils offene Schlachten austragen, eine Abneigung gegen ihre militärischen Gegner entwickeln, ist an und für sich eine normale Entwicklung in Kriegen. Dies wird aber durch eine generelle Ideologie überlagert, die im Salafismus zu finden ist - und damit sowohl in Saudi Arabien als auch Da'esh: Eine Ablehnung der verschiedenen schiitischen Strömungen als Teil der islamischen Gemeinschaft. Diese sogenannte takfiri-Praxis, die erstmals in 14.Jhd aufkam und mehr oder weniger eine Neubelebung nach den Sechstagekrieg (1967) erfuhr - allerdings damals noch in anderer Form - legitimiert, oder fordert gar in einigen Interprationen, die Tötung von all jenen, denen kufr (es handelt sich hierbei um die gleiche Wortwurzel), d.h. Unglaube, nachgewiesen wird.

Ausprägungen der Praxis lassen sich in diversen Ereignissen sehen - ob in Irak, Syrien, Pakistan oder Nigeria. Dabei gehen Attacken nicht nur gegen Schiiten, sondern wie im Beispiel Pakistans ebenso gegen unorthoxe Muslime. Eine gefährliche Entwicklung, die in dieser Intensität ein Produkt der Moderne ist und weiter zunimmt. Der Salafismus nach dem Prediger Abd al-Wahab in Saudi Arabien - respektive seinem Vorgänger, dem Diriyah-Emirat - kannte zwar schon immer eine anti-schiitische Agitation, aber heute muss man konstatieren, dass sich jene Ideologie weit über die Nadschd-Wüste ausgebreitet hat und auch von nicht salafistischen Strömungen geprägt wird, sondern sich teilweise in der hanafitischen Rechtsschule - der größten im sunnitischen Islam - entwickelt.

In Jordanien beispielsweise sorgten eine Moschee in Mafraq für Aufsehen, nachdem Poster von 12-schiitischen Geistlichen zusammen mit iranischen Fahnen auf dem Boden des Eingangs des Gebetshauses ausgelegt und später angezündet wurden - begleitet von anti-schiitischer Rhetorik. In einem ähnlichen Zusammenhang kann man die Aussagen vom türkischen Präsidenten Erdogan sehen, der erst kürzlich die Hashd al-Shabi, diverse Volksmilizen im Irak, die mehrheitlich schiitisch sind, als "Terroristen" bezeichnete - und damit einen diplomatischen Eklat auslöste.

Auf der anderen Seite kann man Erdogans Worte ebenso in einen anderen Rahmen setzen, immerhin werden die Hashd diverse, teils brutale Verbrechen nachgesagt, aber frühere Aussagen von ihm zeichneten sich ebenfalls nicht unbedingt von einem Wohlwollen gegenüber der Shia aus.

Anti-Schia oder anti-Iran?

Natürlich ist der heutige Takfirismus in der Form, wie man ihn beim Anschlag auf den Buskonvoi in al-Rashidin sehen konnte, nicht gleichzusetzen mit einer anti-schiitischer Rhetorik in Reden. Zwischen salafistischen Milizionären wie Da'esh oder dem post-Bin Laden al-Qaida, die das Töten von Schiiten als religiöse Pflicht ansehen, und verschiedenen Rebellen-Kämpfern in Syrien, die über Schiiten schimpfen, bestehen doch Unterschiede. Das konnte man beispielsweise daran sehen, dass auch einige Rebellen unter den Opfern des Anschlages waren, da sie die Busse als Teil des Abkommens beschützen mussten.

Ein Aspekt hinter anti-schiitischer Agitation ist religiöse Überzeugung, der andere jedoch Ablehnung gegenüber Iran, die somit mehr politisch ist. Einige Analysten und Kommentatoren vermuten hinter den inter-islamischen Konflikten meistens nur die religiöse Komponente, was seine Richtigkeit zwar hat, aber eben nur begrenzt. Es ist letztlich ein Synkretismus verschiedener Aspekte, der das Bild der anti-Schia-Bewegung zusammensetzt, das über die Religion allein hinausgeht.

Diese Differenz zu ziehen, ist wichtig um die Komplexität in der Region zu verstehen und einige Ereignisse richtig einordnen zu können. Dazu gehört, Anschläge wie in al-Rashidin, die sich gezielt gegen Schiiten richten, in ebenjenen Rahmen einzubetten, nämlich dem ideologisch motivierten Takfirimus, ohne es jedoch mit der politisch motivierten Abneigung zu verwechseln.

Freilich hat es überhaupt keinen Sinn, beide Komponenten wegzulassen, wie es einige Medienhäuser gemacht haben und die Opfer - von denen, das sei an dieser Stelle nochmal betont, die meisten Kinder waren - als Assad-Anhänger zu bezeichnen. Bei gezielten Anschlägen auf Nizariten, Alewiten, Drusen oder Nusairier, wäre das nochmal anders zu betrachten, aber das sind andere Geschichten.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Abrahan Garcia

Angehender Orientalist

Abrahan Garcia

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