Auf der Suche nach den Ursprüngen

Djihad Eine Einführung in die theologischen und historischen Hintergründe des heutigen Djihad – Teil 2

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Im ersten Teil des Artikels wurde die Bewegung der Salafiyya angeschnitten und die Gründe für dessen Entstehen und Verbreitung erläutert. Letztlich ist aus der Salafiyya, obwohl sie als Reformbewegung entstanden ist, der heutige Djihadismus gewachsen. Der Wandel von einem Gedankenkonstrukt, der zu Beginn mittels Adaption westlicher Werte den Zustand der islamischen Welt verbessern wollte, geschah über einen langen Prozess hinweg, der neben theologischen Aspekten insbesondere durch politische Ereignisse beeinflusst wurde. Neben dem Kolonialismus in Indien im späten 19. Jahrhundert, aus der die Gelehrtenbewegung der Salafiyya entstanden ist, spielten die Umwerfungen in Ägypten eine viel entscheidendere Rolle. Von der Zerschlagung osmanischer Herrschaft im Lande des Nils und der Unterwerfung durch die britische Krone nach dem 1.Weltkrieg, die mehrere Jahrhunderte islamische Herrschaft durch christliche ersetzte, bis zum Putsch der freien Offiziere 1952, der die Ägypter zur Unabhängigkeit führte, und den vier Kriegen mit Israel, ist die Geschichte Ägyptens eng verknüpft mit dem Erstarken des Djihadismus.

Doch es gibt ein weiteres Ereignis im Land der Pharaonen, das bei anderem Verlauf die heutige Situation im gesamten Mittleren Osten verändert hätte. Es war 1818, als der damalige Staathalter der Osmanen in Ägypten, Muhammed Ali Pasha, zum Schlag aussetzte und nach harten Kämpfen das Emirat von Diriyah zerschlug. Auch wenn er dadurch die politische Ordnung auf der arabischen Halbinsel wieder herstellte, so gelang es ihm nicht, die religiöse Bewegung zu brechen, die in Diriyah seinen Lauf nahm und sich in der Wüstenregion ausbreitete:

Wahabismus

Denn die Entstehung des Emirats von Diriyah, auch der erste saudische Staat genannt, ist neben politischen Konstellationen insbesondere durch die religiöse Doktrin des Wahabismus geprägt worden. Es ist wichtig, die Geschichte vom ersten Staat der Dynastie Al-Saud zu kennen, da sie einige Parallelen zum heutigen Djihadismus aufzeigt, obwohl sie doch fast 200 Jahre alt ist.

Der Namensgeber der Ideologie, die sich heute islamische Fundamentalisten, ob puritanisch oder radikal, zu Eigen machen, Abd al Wahab, ist einer der sogenannten „Väter“ des Djihad, zusammen mit Ahmad ibn Hanbal, Ibn Tamiya, Sayyid Qutb und Abdullah Azzam. Es war keinesfalls so, und das ist eine Tatsache, die im heutigen Islamverständnis schon fast untergeht, dass die Ideen von Wahab in damaligen Gesellschaft akzeptiert wurden. Im Gegenteil: Zeit seines Lebens wurde der Mann des Öfteren verstoßen und verbannt, weil die Gemeinschaften seine Thesen zu radikal einschätzten. Dies steht diametral der heutigen Ausbreitung des Wahabismus entgegen, der sich von der arabischen Halbinsel bis Europa und Südostasien entwickelt hat. Denn letztlich sind seine Lehren über die Jahrzehnte nicht gemäßigter geworden.

Anfang des 18. Jahrhundert geboren als Sohn einer Familie hanbalitischer Gelehrter, kam er sehr früh mit den konservativen Ausprägungen des Islams in Kontakt. Ahmad ibn Hanbal, als Gründer hanbalitischen Rechtsschule, war ein Verfechter des tauhids, der Ein-Gott-Lehre, und kritisch gegenüber den Disziplinen der Gelehrtenkultur. Für ihn galt der Koran als Wort Gottes immun gegen jegliche menschliche Ratio. Dementsprechend gilt die vom ibn Hanbal gegründete Schule auch als die konservativste im sunnitischen Islam. Nachdem Wahab anfing in seiner Heimatregion zu predigen, wurde er alsbald dazu gedrängt eben jene zu verlassen. Zu radikal waren seine Äußerungen. Er zog nach Medina, wo er bei zwei Lehrern unterkam, die Anhänger von Ibn Tamiya waren. Tamiya, ein großer Verfechter der Hanbaliya, führte die Thesen von Hanbal weiter aus und verstrickte diese mit der Ablehnung gegenüber anderen islamischen Konfessionen. Insbesondere Alawiten waren seiner Meinung nach Abtrünnige, die getötet werden müssen. Durch seine Werke wurde Wahab besonders beeinflusst, auch das heutige System von Saudi Arabien ist auf die Lehren von Tamiya gefußt.

Von Medina nach Basra

Nach seiner Zeit in Medina machte sich Wahab auf nach Basra im heutigen Irak. Dort führte er seine Predigten fort, abermals so radikal, dass er aus der Stadt verbannt wurde. Er verurteilte unter anderem Tabakkonsum und Musik, sowie ganz in Tradition zu ibn Tamiya die Einbindung von Heiligengräbern oder Bäumen in die religiöse Praxis. Das Prinzip der Ablehnung seiner Thesen verfolgte Wahab den Großteil seines Lebens lang. Als er nach der Station in Basra in seine Heimat im Nadsch, einem Bezirk in der Mitte der arabischen Mittel, zurückkehrte, wurde gar ein Mordversuch auf ihn unternommen. Die Ablehnung seiner Thesen, seiner Lehren ist dementsprechend allgegenwärtig gewesen. Es war mitnichten so, dass seine Radikalität auf fruchtbaren Boden fiel, im Gegenteil. Wahab wurde von den verschiedenen Gesellschaften im Nadsch, Hijaz und Basra abgelehnt.

Dies änderte sich jedoch als er nach dem Mordanschlag auf ihm in seinen Geburtsort zurückkehrte, wo ein neuer Emir die politische Herrschaft übernahm. Diesem bot sich Wahab an und beide schlossen einen Pakt, in dessen Folge der Emir seine religiösen Lehren unterstützte und Wahab im Gegenzug dessen Expansionspläne die gesamte Halbinsel zu erobern. Beide feierten den Deal, indem sie ein Heiligengrab zerstörten und eine angebliche Ehebrecherin steinigen ließen. Der Wahabismus war geboren.

Eine Allianz als politisches Instrument

Auch wenn es dieser Pakt nicht der legendäre Zusammenschluss mit dem Stamm der Al Sauds war und der damalige Emir in Wahabs Geburtsort nicht Muhammad ibn Saud hieß, so vollzog der Gelehrte schließlich in Diriyah die politisch-religiöse Symbiose, die bis heute wiederhallt. Aus seinem Heimatort wurde er vom Emir vertrieben, nachdem auf diesen von einem mächtigen Stamm Druck ausgeübt wurde. Diese wiederholte Vertreibung sollte jedoch die letzte in seinem Leben sein. 1744 fand er in dem Stamm er Sauds Verbündete und Partner, die seine Lehren unter ihren Anhängern verbreiteten Wahab als obersten Rechtsgelehrten, als Iman ansahen. Damit hatte der Wahabismus Einzug in die arabische Gesellschaft gefunden und Wahab seine Rolle als Verbreiter jener Thesen von ibn Hanbal und Ibn Tamiya.

Die nachfolgenden Expansionsbestrebungen von den Sauds gingen in den darauffolgenden Jahren so weit, dass sie bis zur Jahrtausendwende große Teile der arabischen Halbinsel eroberten und sogar 1802 in Kerbela einfielen. Dort richteten die Truppen der Sauds, oder auch Wahabiten, ein furchtbares Massaker an den vorwiegend schiitischen Gläubigen an und töteten über 5000 von ihnen. Dieses Ereignis, in dessen Folge auch das monumental wichtige Grab von Husain zerstört wurde, markiert einen tiefen Schnitt in der Beziehung der Wahabiten und nicht-sunnitischen Konfessionen des Islams. Auch wenn letztlich das Emirat von Diriyah 1818 vom den Osmanen komplett vernichtet wurde, nachdem die Sauds 1804 Medina einnahmen und damit die Herrscher in Konstantinopel und Kairo verärgerten, war zu dieser Zeit die Lehre von Abd al Wahab, die Wahabiyya, bereits in den Köpfen der Beduinenstämme des heutigen Saudi Arabiens tief verankert. Die Zerschlagung und komplette Zerstörung der Stadt Diriyah konnte daran nichts ändern.

So geschah letztlich unter massiver Hilfe der britischen Regierung das rund ein Jahrhundert später abermals die Sauds zum Sturm ansetzten und diesmal erfolgreich weite Teile der arabischen Halbinsel, einschließlich Mekka und Medina, eroberten und 1932 ihr Königreich proklamierten. Nach der Entdeckung der riesigen Erdölfelder sechs Jahre darauf war das heutige Saudi Arabien geboren; fest verankert mit den Lehren von dem Geistlichen, der so überzeugt war, über seine Lehre den Weg zu Gott und einem frommen Leben erkannt zu haben. Abd al Wahab war übrigens bereits schon lange tot, bevor die Expansion der Sauds Erfolg zeigte. Nachdem sein Emir Muhammad ibn Saud starb und dessen Nachfolger nicht mehr jene Begeisterung für Wahabs Thesen zeigte, zog sich dieser größtenteils aus der Öffentlichkeit zurück und starb 1792.

Von Salafiya zur Wahabiya

Es ist letztlich das Jahr 1979 gewesen, in dessen Folge es zur eindeutigen Verschmelzung zwischen der Reformbewegung, die in Ägypten so radikalisiert wurde, und der Lehre aus der arabischen Wüste kam, als in Saudi Arabien rund 500 Fanatiker in der großen Moschee von Mekka eine Geiselnahme veranstalteten. Sie fühlten sich vom westlichen Lebensstil des damaligen Königshauses provoziert und forderten unter anderem dessen Sturz sowie eine Rückbesinnung auf konservative Werte. Nachdem saudische Regierungsbehörden in zähen Gesprächen mit Rechtsgelehrten eine Fatwa aushandelten, in dessen Folge die Anwendung von Gewalt in der heiligsten aller Städte des Islams erlaubt sei, konnte unter heftigen Verlusten die Situation bereinigt werden. Zu einem sehr hohen Preis. Einerseits war es Teil des Deals, dass auf Kosten der Fatwa die Regierung mit ihren Geldern wahabitische Institutionen unterstützen soll, wofür die Islamische Weltliga gegründet wurde, und die saudische Gesellschaft wieder ein Stück weit von der Freiheit vergangener Tage abrückt. Leute wie Abd al Aziz ibn Baz, der 1966 noch ein geozentrisches Weltbild verteidigte und einer dessen Schüler der Chef-Geiselnehmer von 1979 war, bekamen daraufhin in mehr Einfluss und beeinflussten die religiöse Ausrichtung in Saudi Arabien. Baz wurde unter anderem Großmufti.

Der Big-Bang im Nahost: 1979

Das Jahr 1979 war in vielen Belangen ein Schicksalsjahr für die weiteren Entwicklungen in der Region. Einerseits kam es im März zum ersten Friedensvertrag zwischen einem arabischen Staat und Israel, als Anwar as-Sadat sich mit Menachem Begin in Washington traf. Ägypten, ehemalige Speerspitze der arabischen Völker, erkannte damit als erste Regierung den Staat Israel an. Sadat, ein Jahr zuvor noch mit den Friedensnobelpreis ausgezeichnet, bezahlte für diesen durchaus revolutionären Schritt doppelt: Einerseits manövrierte er Ägypten dadurch in die Isolation und schuf ein Vakuum in der Rolle des Führers der Araber. Außerdem zahlte Sadat mit seinem Leben: 1981 wurde er von der Gruppierung Al-Djihad erschossen; in der iranischen Hauptstadt Teheran benannte die neue Regierung eine Straße nach dem Attentäter: Islambuli.

Diese hatte zuvor 1979 eine Revolution gestartet und eine islamische Republik ausgerufen. Die Botschaft, die in die Region gesendet wurde, war klar: Ein islamischer Staat, eine Theokratie auf Basis des Koran, ist möglich. Wenngleich es eine schiitische Revolution war, auch Sunniten, insbesondere arabische, sahen sich bestätigt, dass das Modell des Laizismus nicht richtig ist. Der Panislamismus löste die Ära des Panarabismus ab. Nicht das Völkische verbindet die Menschen, sondern das Religiöse.

Genau in dieser Zeit fällte auch die sowjetische Invasion Afghanistans. Muslime weltweit, von Bosnien bis Saudi Arabien, wurden zum Djihad aufgerufen. Einer der Initiatoren dieser Bewegung war Abdullah Azzam, ein Universitätsprofessor in Saudi Arabien, der einer der Lehrer von Osama Bin Laden war. Direkt unterstützt von Pakistan und zunächst indirekt durch die USA, formierte sich so der afghanische Widerstand zum großen Teil aus religiös motivierten Gruppen. Jahre später kehrten ebenjene radikalisierte Afghanistan-Veterane in ihre Heimatnationen zurück und mit ihnen ihre Ideologie. Männer wie az-Zarqawi, Bin Laden. Der radikale Islam, zunächst nicht mehr als eine Randerscheinung, wuchs zu einer Massenbewegung. Jeder Krieg, jeder Konflikt, nährte ihr Erstarken.

Reformation als Lösung?

Oftmals wird der Islam als Grundlage des Djihadismus angesehen und dadurch als Teil der Lösung. Eine Reformation, Modernisierung des Islams sei der beste Weg, die Ideologie des Djihad zu brechen. Doch wird das tatsächlich funktionieren?

Der Djihadismus hat einen langen historischen Weg genommen; von der Kolonialisierung durch europäische Mächte und dem Niedergang der islamischen Welt, dem Scheitern politischer Konzepte und dem Erstarken alternativer Bewegungen, die gefördert durch Erdölmilliarden und politischem Pragmatismus eine dominante Rolle einnehmen konnten, die wahrscheinlich sonst nicht eingetroffen wäre. Reicht es dann den Islam zu reformieren? Oder wie oft gefordert wird, zu verwestlichen?

Die These sei an dieser Stelle gewagt, dass eine Modernisierung des Islam den Djihadismus nicht begraben wird. Wohl aber eine Modernisierung der Gesellschaften. Wenn die Region und ihre Länder vom Dauerzustand des Krieges abkommen und zu Stabilität und Prosperität kommen, den Niedergang ihrer Gesellschaften stoppen, wird der Djihad automatisch Stück für Stück erbleichen. Solange jedoch Chaos und Gewalt große Teile des Orients beherrschen, wird auch der Radikalismus bestehen. Denn dieser ist nicht allein ein religiöses Phänomen, auch wenn das oft so betrachtet wird. Neben Koran speist er sich aus wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Motiven. Diese Erkenntnis ist der erste Weg, um den Djihad zu bekämpfen.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Abrahan Garcia

Angehender Orientalist

Abrahan Garcia