Die nationale Pandemie

Impferiale Lebensweise Während in Deutschland über Impfzwang und Kinderimpfungen debattiert wird, rutscht die global gerechte Verteilung aus dem Blickfeld. Ein kritischer Blick auf Privilegien.

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Es brauchte wohl diese Pandemie, um jegliche Hoffnung in internationale Kooperation vollständig zu zertrümmern. Es brauchte die Erfahrung einer global wütenden Krankheit, die sich nicht um Hautfarbe oder Herkunft schert, um uns wieder innerhalb nationaler Grenzen vom Rest der Welt abzukapseln. Auch wenn die internationalen Klimaverhandlungen selbiges ja immer wieder schmerzlich gezeigt haben, ist der Widerspruch, dass eine globale Krise nicht zu mehr Zusammenarbeit, sondern stattdessen zu Nationalismen und einen Rückfall in koloniale Strukturen führt, schwer zu ertragen.

„Hast du schon deine Impfung bekommen?“ Der Widerspruch zwischen globaler Pandemie und dem Beharren auf nationale Lösungen ist auch deshalb so schmerzhaft, weil diese Frage so alltäglich geworden ist. Junge, gesunde, weiße, (im globalen Maßstab) reiche Menschen klopfen sich gegenseitig auf die Schulter, weil sie sich haben impfen lassen. In den sozialen Medien kursieren entsprechende Pflaster-Fotos. Die Corona-Schutzimpfung erscheint als ein normalisierter, fast schon staatstragender Akt der Solidarität und Gesundheitsvorsorge.

Selbstverständlich ist es eine riesige wissenschaftliche und technologische Errungenschaft, dass bereits nach zehn Monaten Pandemie wirksame Schutzimpfungen verfügbar waren. Und es ist zweifelsohne eine ebenso große Errungenschaft, dass die Entscheidung zur Impfung eine individuelle ist. Doch die neuen Impfstoffe sind sowohl teuer als auch knapp, weswegen deren Verteilung ins Zentrum der Betrachtung rücken muss. Und ein genauerer Blick zeigt sehr deutlich: Die Impfung ist als individuelle Entscheidung erst durch Privilegien ermöglicht, abhängig von globalen Kräfteverhältnissen und daher durch und durch politisch. Vor allem ist sie schreiend ungerecht verteilt.

Über 90 % der verfügbaren Impfstoffe wurden von einer kleinen Anzahl reicher Länder aufgekauft – schlicht und ergreifend, weil sie es sich leisten konnten. Einige Staaten im globalen Norden haben siebenmal mehr Impfstoffe bestellt, als sie zur Versorgung ihrer gesamten Bevölkerung benötigen. Afrikanische Staaten haben dagegen bisher nur 40 Millionen Dosen der COVID-19 Impfstoffe für ihre Gesamtbevölkerung von 1,2 Milliarden Menschen erhalten. Das ist nur 1% des tatsächlichen Bedarfs. Der Anteil der Bevölkerung, die vollständig gegen Covid-19 geimpft worden sind, variiert dementsprechend extrem: Von 0% in großen Teilen Subsahara-Afrikas bis zu 50% und mehr in Mitteleuropa. „Ob ich geimpft werden kann oder nicht, hängt maßgeblich davon ab, wo ich geboren bin“, resümiert Prof. Wolfgang Greiner, Gesundheitsökonom, Universität Bielefeld.

Initiativen, die an dieser Ungerechtigkeit strukturell etwas ändern wollten – etwa der gemeinsame Technologiepool C-TAP – sind seitens der WHO eingestellt worden zugunsten von Kampagnen, die freiwillige Gaben von Industriestaaten und Philantrokapitalist*innen in Szene setzen. Kampagnen wie Covax sind vor diesem Hintergrund zum Scheitern verurteilt: Es kann nur eine geringe Menge des verfügbaren Impfstoffs verteilt werden, weil der Markt durch bilaterale Verträge zwischen Industriestaaten und Pharmakonzernen leergekauft ist.

Die reichlich zur Verfügung stehenden Statistiken und Karten zeigen schonungslos die globale Ungerechtigkeit und die enormen Privilegien im globalen Norden. Doch der Blick wird medial anders gelenkt: Mit Blick auf die "Konkurrenz" in anderen Ländern soll hierzulande die ganze Bevölkerung so schnell wie möglich geimpft werden, weswegen tägliche Pressemitteilungen und Livestatistiken vom großartigen nationalen Impffortschritt zeugen. Längst vergessen ist der Fakt, dass die Corona-Pandemie eine Pandemie ist und damit qua definitionem weltweit wirkt. Sprüche wie „Nobody is safe until everybody is safe“ verkommen zu unnötiger Prosa.

Vergessen ist dann auch das Wissen darum, dass das Virus für bestimmte Gruppen besonders gefährlich ist. Mittlerweile sollte wissenschaftlich zweifelsfrei sein, dass die Infection Fatality Rate (Anteil der Todesfälle unter allen Infizierten) mit dem Alter der infizierten Person besonders stark zunimmt. Bei derzeitiger Impfstoff-Knappheit bedeutet dies im Klartext, dass die in Deutschland lebende dreißigjährige Larissa ohne Vorerkrankungen die Impfung faktisch sehr viel weniger nötig hat als der siebzigjährige Mohammad aus Algerien. Für Farah, 59, die gerade Großmutter geworden ist und in Indonesien lebt, liegt die Wahrscheinlichkeit einer schweren Erkrankung rein rechnerisch um 2000 Mal höher als für den sechzehnjährigen Schüler Leon aus Deutschland. Larissa und Leon flogen für die Fotos ihrer Impfung auf Instagram die Herzen zu – Mohammad und Farah haben auf absehbare Zeit „keine Prio“.

Die Praxis des Impfens von jüngeren Nicht-Risiko-Gruppen in Ländern des globalen Nordens zum jetzigen Zeitpunkt ist damit einerseits neokolonial und rassistisch: Ohne mit der Wimper zu zucken, nimmt sie globale Machtasymmetrien in Kauf und wertet das Leben von Menschen ab, die in vormals kolonisierten Ländern leben. Sie ist andererseits eine kollektive Bestätigung eines Impfnationalismus, der in seiner Essenz genauso dumpf ist wie jede Erscheinungsform des Nationalismus: Zuerst bedienen wir unser „Volk“ und alles darüber hinaus ist uns egal. Jamie Shea zieht aus der für afrikanische Staaten katastrophalen Situation den Schluss: „Afrika ist am Ende der Lebenserhaltungskette und muss warten, bis die reichen Nationen gegessen haben, bevor es seinen Anteil an den Krümeln, die auf dem Tisch liegen, nehmen kann“.

Kaum eine Handlung verdeutlicht daher unsere imperiale Lebensweise so schonungslos und brutal wie die Normalisierung der alltäglichen Frage, wann man denn dran sei mit der Impfung. Vorausgesetzt ist dabei immer, dass man als junge und gesunde Europäer*innen scheinbar „ganz selbstverständlich“ eine Immunisierung vor den ärmeren zwei Dritteln der Welt erhält, egal welchen Risikos. Im Prinzip zeigt die meist kritiklose, wahrlich weltvergessene Mitwirkung an den Impfkampagnen im globalen Norden, dass die Hegemonie der imperialen Lebensweise reibungslos funktioniert: Erwiesenermaßen begünstigen Monokulturen und Raubbau an der Natur die Entstehung von pandemischen Viren wie Covid-19. Die Kosten von Klima- und Biodiversitätskrise werden also in Gestalt einer Pandemie auf alle Menschen weltweit umgelegt, auch wenn deren Verursacher*innen vor allem in reichen Staaten zu suchen sind. Schutz und Sicherheit bieten dann Arzneien, Beatmungsgeräte und Impfungen, die exklusiv vor allem Menschen in den Industrieländern des globalen Nordens zugänglich sind. Diese systemische Ungerechtigkeit wird politisch, materiell und mental abgesichert: Durch einen dem Anschein nach unumstößlichen Patentschutz, militärische Abschottung und die stillschweigende Zustimmung der geimpften Privilegierten.

Immer wieder ist das Argument zu hören, dass der Impfstoff von staatlich geförderten Pharmakonzernen im globalen Norden entwickelt und hergestellt werde, deswegen müssten „wir“ ja wohl auch als Erstes davon profitieren. Dieses Argument verkennt jedoch völlig die Realität der globalisierten Arbeitsteilung: Der Konsum von allen möglichen Produkten, von Smartphones über Schoko-Aufstrich bis zu Plastikstühlen, beruht auf der Auslagerung der Produktionsprozesse in Regionen der globalen (Semi-)Peripherie. Dass Produkte von anderswo global zirkulieren und wir auf diese vielfach und ganz alltäglich zurückgreifen, wird in dem Moment völlig außenvorgelassen, wenn Impfstoffe dann auf einmal nicht geteilt werden sollen.

Was machen wir nun? Der Verweis auf die imp(f)eriale Lebensweise, zu der wir alle beitragen, macht deutlich, dass es hier nicht um das Zuweisen individueller Schuld geht. Ich kann viele Gründe nachvollziehen, die Menschen dazu bewogen haben, sich gegen Corona impfen zu lassen. Wenn nun aber der schnelle Schutz der vulnerablen Bevölkerungsgruppen wichtig ist, muss Solidarität global verstanden und verlangt werden. Dass junge und gesunde Menschen aus den hier zusammengestellten Gründen persönlich auf die Impfung verzichten, um diese den weniger privilegierten Personen in anderen Staaten zu ermöglichen, erscheint auf den ersten Blick aussichtlos und naiv. Damit könnte jedoch immerhin Druck insbesondere auf die Bundesregierung erzeugt werden, eine gerechte globale Impfstoffverteilung möglichst schnell zu ermöglichen. Und mit dem Impf-Soli zeigt Medico International, wie auch Impf-Privilegierte diesen politischen Druck vergrößern können. In jedem Fall muss der impfnationalistischen Politik des globalen Nordens entschieden widersprochen werden – durch Kampagnen, Aktionen und individuell-politische Entscheidungen. Die Pandemie kann nur global bearbeitet werden.

Ich danke meiner Lebenskomplizin Elisabeth für stundenlange Debatten zu diesem Thema und meinen Freund*innen T., C., N. und J. für wertvolle Hinweise zum Artikel.
Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Anton Brokow-Loga

Anton Brokow-Loga ist Transformationsforscher an der Bauhaus-Universität und Stadtrat in Weimar.

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