Auf der Tartanbahn, wo sonst Leichtathleten trainieren, sammelt sich eine Menschentraube. Ein Mann mit Megafon begrüßt die Ankommenden. Sie tragen Flaggen und Schilder, um einander wiederzufinden. Mehr als einen Monat sind sie schon gemeinsam auf dem Weg in die Vereinigten Staaten. Hubschrauber kreisen im Tiefflug über dem Sportstadion im Norden von Mexiko-Stadt, dass sie fast die Palmen streifen. An den Geländern der Tribüne hängt frisch gewaschene Wäsche. In großen Wasserbottichen baden die Ankommenden. Bachata-Musik schallt aus Lautsprecherboxen über das Gelände. Eine Gruppe tanzt auf der Laufbahn. Es hat den Anschein, als feierten sie hier einen ganz anderen als sportlichen Triumph – als seien sie glücklich, es gemeinsam bis hierher geschafft zu haben, bis zu diesem Ort in Mexiko-Stadt, an dem man sich erholen und innehalten kann.
Zur Not durch den Fluss
Mehrere tausend Menschen aus Guatemala, Honduras und El Salvador haben sich seit Anfang Oktober der Migrationskarawane Richtung Norden angeschlossen, um die Südgrenze der USA zu erreichen. Das heißt, die meisten werden bis zur mexikanischen Grenzstadt Tijuana ziehen, etwa 2.800 Kilometer von ihrem jetzigen Sammelpunkt entfernt. Unter den Fluchtwilligen sind viele Minderjährige, einige unbegleitet. Einer davon ist Alexander Gonzales Herrarte. Er kenne den Weg bereits, erzählt der 17-Jährige auf der Tribüne des Sportstadions. Er sei auf dem Weg zu seiner Mutter. Die habe ihn verlassen, als er sechs Monate alt war, um in den USA Arbeit in einem Restaurant zu finden. Zehn Jahre sei es nun her, dass er sie besuchen durfte und zum letzten Mal gesehen habe. Er erinnere sich an die vielen Kreuze an den Rändern der Fernrouten in Richtung USA, an die sauberen Straßen dort selbst, vor allem aber an eines: dass man sich sicher fühlen konnte. Doch bleiben durfte er nicht, nach drei Monaten wurde Alexander wieder abgeschoben. Die Mutter, mittlerweile in den USA verheiratet, musste sich damit abfinden. Seither wisse er, sagt Alexander, dass er unbedingt wieder zu ihr zurückkehren wolle, egal ob mit einem Visum oder „mojado“, zu Deutsch: nass. Das heißt durch den Grenzfluss, als illegaler Migrant.
Anfang Oktober sind in der honduranischen Stadt San Pedro Sula gut 500 Menschen aufgebrochen. Fernsehbilder zeigen, wie eine stetig wachsende Gruppe die Grenze nach Guatemala durchbricht. Eigentlich wollte Alexander allein losziehen, aber dann sind es diese Bilder, die den 17-Jährigen zur schnellen Entscheidung treiben. Er packt seinen Rucksack und sitzt wenige Stunden später im Bus Richtung „Puente“, er geht zur guatemaltekisch-mexikanischen Grenze. Bei einer Überfahrt mit dem Floß lernt er die ersten Freunde aus der Karawane kennen.
Seine Freundin habe er in Guatemala zurückgelassen, weil die Tour bis in die USA viel zu gefährlich sei. Alexander räuspert sich. Er trägt eine kleine Bibel in der einen Hosentasche, sein Smartphone in der anderen. Täglich korrespondiert er mit seiner Mutter. „Ich warte hier auf dich. Sei vorsichtig. Pass auf dich auf“, schreibt sie per Whatsapp. Es gibt viele Kinder und Jugendliche, die zu ihren Eltern in den USA wollen. „Alle haben diesen Traum, dort etwas zu erreichen“, ist Alexander überzeugt. Er selbst wolle studieren und Grafikdesigner werden. Zweimal habe er in Guatemala nur knapp einen Überfall von Kriminellen überlebt: „Ich will endlich in einem Land leben, in dem die Gesetze respektiert werden, wo ich sicher bin.“ Für Guatemala gäbe es keine Hoffnung mehr, dass sich dort jemals etwas ändert.
Wartezeit: acht Monate
Die meisten Migranten fliehen vor endemischer Gewalt und marodierenden Banden, Arbeitslosigkeit und Armut. Glaubt man einer Umfrage der Internationalen Organisation für Migration (IOM), die den Marsch aus Mittelamerika von Anfang an begleitet hat, suchen vier Fünftel der Migranten ein besseres, vor allem sicheres Leben. Tatsächlich erwarte sie an der US-Grenze eines der restriktivsten Asylverfahren weltweit, meint Atenas Burrola von Pueblos Sin Fronteras (Menschen ohne Grenzen). Sie trägt ein orangefarbenes Cap als Zeichen dafür, dass Migranten sie nach Informationen fragen können. Im temporären Flüchtlingscamp in Mexiko-Stadt muss die US-Amerikanerin den vorübergehend Gestrandeten immer wieder einschärfen, was passieren kann, wenn sie an der vermeintlichen Endstation ihrer Reise eintreffen. Dass Flucht vor Elend und Gewalt allein nicht ausreiche, um auf einen Schutzstatus rechnen zu dürfen. Die wenigsten kennen das amerikanische Asylverfahren. Es kann dazu führen, dass Asylsuchende bis zu sechs Monate in einem Camp festgehalten werden. Doch schreckt das die Geflüchteten viel weniger als die Sorge, womöglich von ihren Angehörigen getrennt zu werden. In der Vergangenheit wurden ganze Familien – nicht selten Mütter und Kinder – auseinandergerissen.
Das Thema Migration sei derzeit in den Vereinigten Staaten überpolitisiert, findet Burrola. In Wirklichkeit sei die Karawane kein Strom von Menschen, den man nicht aufhalten könne, sondern bestenfalls ein „Tropfen“. Mit dem Megafon auf dem Weg zu einem Meeting sagt sie noch: „Das Ausmaß der Migrationswelle ist nicht neu. Der Unterschied ist, dass sich diesmal die Geflüchteten zusammengetan haben und zusammenbleiben wollen, das ängstigt die US-Amerikaner.“ Präsident Trump hat mehrfach von einer „Invasion“ gesprochen und ließ einige tausend Soldaten an die Grenze verlegen. Am 9. November unterzeichnete er ein Dekret, nach dem illegal aus Mexiko Eingereiste keinen Anspruch auf Asyl mehr haben. Eine Maßnahme, die von internationalen Organisationen scharf kritisiert wird, auch wenn sie auf ein richterliches Veto stieß.
In den Flüchtlingscamps in Mexiko-Stadt hat Trumps Gebaren durchaus Wirkung hinterlassen. Mehr als 3.000 Mittelamerikaner hätten um Asyl gebeten, teilt das mexikanische Innenministerium mit. Den Menschen würden vorübergehend provisorische Papiere ausgehändigt, die sie berechtigten, sich sofort um Arbeit zu bemühen. Mexiko bietet insofern die abgespeckte Version des amerikanischen Traums von Wohlstand und Sicherheit. Viele Geflüchtete seien oft sehr erschöpft, meint Alexander und rechnet damit, dass etwa die Hälfte seiner Gruppe in Mexiko bleiben werde.
Er selbst jedoch will an seinen Plänen festhalten: „Ich bin mit der Karawane losgegangen und gehe mit denen weiter, die nicht aufgeben. Aus uns ist eine Familie geworden.“ Jeden Abend würden sie sich zu einer großen Versammlung treffen, fährt er fort und zwirbelt an seinem rosafabenen Armband, das eine fünfstellige Registriernummer trägt. „Nur weil wir so viele sind, werden wir es schaffen, die Grenze zu durchbrechen“, ist er überzeugt: „Alle werden über die Grenze gehen, und wir alle werden festgenommen.“ Was ihn dann erwarte, könne nicht schlimmer sein als das, was tagtäglich in seinem Land, in Guatemala, passiert. „In Amerika dürfen sie uns zumindest nicht töten.“
So zieht er mit einem Teil seiner Gruppe weiter in Richtung Tijuana. Als der 17-Jährige Mexiko-Stadt verlässt, ist er der Meinung, dass es nicht länger als zwei Wochen dauern wird, bis sie am Ziel sind, und er selbst bald bei seiner Mutter sein kann – doch dann kommt es ganz anders. Nach knapp einer Woche bereits erreicht Alexander die mexikanische Grenzstadt als einer von mittlerweile mehr als 9.000 Migranten, allerdings handelt es sich damit nur um die Spitze der Karawane, die hier eintrifft. Das UNHCR, die Flüchtlingshilfe der Vereinten Nationen, geht davon aus, dass noch Tausende mit dem gleichen Ziel durch Mexiko unterwegs sind. Kein Wunder, dass in der Grenzstadt – auf der anderen Seite liegt der US-Bundesstaat Kalifornien – die Situation angespannt ist. Tijuanas Bürgermeister Juan Manuel Gastélum erklärt den „humnanitären Notstand, seine Kommune sei unzureichend vorbereitet auf einen solchen Zustrom von Migranten. Währenddessen lässt Donald Trump per Twitter verlauten: „Ebenso sind die Vereinigten Staaten auf diese Invasion schlecht vorbereitet.“ Statt des erhofften Übertritts zum amerikanischen Traum wird Alexander nach einem Marsch von mehreren tausend Kilometern mit einer weiteren schroffen Ansage des US-Präsidenten begrüßt: „Illegale Migranten, die versuchen, in die USA zu kommen, dabei noch stolz ihre Flaggen schwingen und nach Asyl fragen, werden eingesperrt und abgewiesen.“
In Tijuana erscheint die Trennung von den bisherigen Begleitern ausweichlich. „Die Leute wollen uns hier weghaben“, sagt Alexander. Er fürchtet sich vor Unruhen, will sich allein durchschlagen, findet kurz Asyl bei einer mexikanischen Familie und erhält schließlich die Wartenummer für einen Asylantrag, verbunden mit der Auskunft: Bis zu acht Monate kann es dauern, bis diese Zahl aufgerufen wird. Er weiß das. So lange wird er in der Grenzstadt ausharren. „Du musst Geduld haben“, schreibt ihm seine Mutter. „Ich warte auf dich.“
Wer eine Entscheidung wie er getroffen habe, müsse auch die Folgen ertragen, glaubt Alexander. „Wer nichts riskiert, der gewinnt nichts.“ Am Ende werde er vor seiner Mutter stehen, von Angesicht zu Angesicht. „Ich möchte endlich wissen, warum sie mich einst allein ließ. Weswegen sie damals in die Vereinigten Staaten wollte. War der Grund ihr amerikanischer Traum?“ Sei sie auf der Flucht oder auf der Suche nach dem besseren Leben gewesen? Wie ist es ihr bis heute in den Staaten wirklich ergangen? Das seien Dinge, die man nicht am Telefon besprechen könne.
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