Eine Milliarde Euro?

Bürgergeld Christian Lindner kündigt nun sogar Einsparungen von 1 Milliarde Euro pro Jahr durch verschärfte Sanktionen an. Eine Luftbuchung, die nichts mit der tatsächlichen Größenordnung der potenziell betroffenen Menschen zu tun hat.

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Die politische Debatte um das Bürgergeld wird von Tag zu Tag um einige Umdrehungen reicher. Bundesfinanzminister Christian Lindner hat nunmehr in den Tagesthemen eine neue Zahl in den Raum gestellt. Sanktionen für Bürgergeldempfänger, die die Arbeit verweigerten, würden über eine Milliarde Euro für den Haushalt einbringen, sagte er. Eine Milliarde Euro wären rund 4 Prozent des derzeit für das Bürgergeld eingestellten Etatansatzes und fast 6 mal so viel wie die 170 Millionen, die im Entwurf für ein Haushaltsfinanzierungsgesetz als erwartete Minderausgabe durch die geplante Verschärfung der Sanktionen veranschlagt werden.

Keine dieser Zahlen ist durch irgendeine Berechnungsgrundlage gedeckt. Die Idee, eine Milliarde durch Sanktionen für "Totalverweigerer" aus dem Bürgergeld herauszusparen, ist aber geradezu absurd. Dann müssten pro Jahr zwischen 900.000 und 1,8 Millionen Menschen für 1 oder 2 Monate das Bürgergeld vollständig entzogen werden. Der Gesetzentwurf erwartet freilich den Löwenanteil der Einsparungen durch eine prognostizierte "präventive" Wirkung der Sanktionsverschärfung. Aber auch für diese Prognose wird keine Berechnungsgrundlage präsentiert. Die 170 Millionen aus dem Gesetzentwurf und die eine Milliarde aus dem Mund des Finanzministers haben eins gemeinsam: sie sind Luftbuchungen. Die Größenordnung von einer Milliarde Euro pro Jahr wäre nur dann im Bereich des Möglichen, wenn Christian Lindner und die FDP mehr im Sinn haben, als jetzt im Haushaltsfinanzierungsgesetz steht: eine verschärfte Rückkehr zu der vom Bundesverfassungsgericht für verfassungswidrig erklärten Sanktionspraxis vor dem Urteil vom November 2019, als tatsächlich teilweise mehr als 1 Million Sanktionen pro Jahr verhängt wurden, auch damals freilich nur zu einem geringen Anteil wegen der Weigerung, Arbeitsangebote anzunehmen.

Aber wäre es möglich, sich der Zahl der potenziell von der jetzt geplanten Verschärfung der Sanktionen im Bürgergeld anzunähern. Der Gesetzentwurf beschreibt die Zielgruppe: der Leistungsanspruch in Höhe des Regelbedarfs entfällt für maximal 2 Monate für diejenigen, die innerhalb des letzten Jahres bereits einmal sanktioniert wurden und eine "zumutbare Arbeit" nicht annimmt, die Möglichkeit der Arbeitsaufnahme muss "unmittelbar" bestehen und "willentlich verweigert" werden. Sehr theoretisch wäre es nach diesem Entwurf tatsächlich möglich, dass im Einzelfall auch mehrere Totalsanktionen gegen eine Person in einem Jahr verhängt werden. Wenn eine Arbeitsaufnahme verweigert, für 2 Monate gesperrt wird, dann wieder der Leistungsbezug beginnt, erneut verweigert und gesperrt wird, könnte es dazu kommen, dass eine Person in einem Jahr bis zu vier mal für jeweils 2 Monate gesperrt wird. Diese Möglichkeit, die der BILD immerhin eine Schlagzeile wert war, ist aber angesichts der qualitativen Eingrenzung im Entwurf so theoretisch, dass sie für eine Schätzung vernachlässigt werden kann. Werfen wir also mit diesen Vorgaben einen Blick auf die Sanktionsstatistik der Bundesagentur für Arbeit. Da zwischen dem 1.7.2022 und dem 30.6.2023 ein Sanktionsmoratorium im Bürgergeld galt, sind die aktuellsten vergleichbaren Daten diejenigen vom Juli 2021 bis zum Juni 2022. In diesem Zeitraum wurden insgesamt 261.166 Sanktionen neu festgestellt. Der Löwenanteil entfiel wie immer mit 62 Prozent auf Meldeversäumnisse. Rund 19 Prozent der Sanktionen (49.394) in diesem Zeitraum waren mit "Weigerung Aufnahme oder Fortführung einer Arbeit, Ausbildung, AGH oder Maßnahme" begründet. Mit rund 50.000 haben wir also einen Näherungswert für die maximale Anzahl der durch die geplanten Sanktionsverschärfung betroffenen Menschen. Allerdings ist die Abgrenzung der Sanktionsstatistik nicht deckungsgleich mit dem neu geschaffenen Sanktionstatbestand. Der vollständige Entzug ist an die "willentliche" Verweigerung der Annahme einer "zumutbaren" Arbeit gebunden, deren Aufnahme "unmittelbar" möglich ist. Diejenigen, die ein Ausbildungsangebot nicht annehmen, werden also von der Regelung nicht erfasst. Die praktische Auslegung dafür, was als "zumutbare Arbeit" gilt, ist der einschlägigen Fachlichen Weisung der Bundesagentur für Arbeit zu entnehmen. Lebensweltlich gesprochen ist damit eine Situation gemeint, in der ein/e Leistungsbeziehende/r ein real vorliegendes Arbeitsvertragsangebot nicht unterschreibt und dafür keinerlei belastbaren Grund (z.B. nicht vorhandene Kinderbetreuung, Sprachkenntnisse oder Pflegeverpflichtungen in der Familie) angeben kann. Diese Weisung geht nach aktuellem Stand allerdings auch davon aus, dass die Regeln für zumutbare "Arbeit" auch für "Maßnahmen zur Eingliederung in Arbeit" gelten. Die Weigerung, eine entsprechende angebotene Maßnahme aufzunehmen, wäre also von der neuen Sanktionsdrohung erfasst. Mit Blick auf die Integrationsstatistik der Bundesagentur für Arbeit, die im letzten verfügbaren Zeitraum für die Vermittlung in sozialversicherungspflichtige Beschäftigung einen Anteil von mehr als 85 Prozent lässt allerdings ohnehin vermuten, dass sich die Mehrzahl der Angebote tatsächlich auf "zumutbare" Arbeitsangebote konzentriert. Die Gesamthöhe der Sanktionen nähert sich mittlerweile wieder den Werten vor dem ab Mitte 2022 geltenden Sanktionsmoratorium an. In der Gesamtschau kann man also davon ausgehen, dass maximal eine Größenordnung von rund 45.000 Menschen pro Jahr von der Neuregelung der Sanktionspraxis durch die Ampel betroffen wäre. Das prognostizierbare direkte Einsparpotenzial der Regelung liegt also zwischen 25 und 50 Millionen Euro pro Jahr. Die tatsächliche Zahl dürfte weit darunte liegen, sofern die Ampel nicht eine Sanktionspraxis intendiert, die dem Karlsruher Urteil eklatant widerspricht. Alle anderen kursierenden Zahlen sind und bleiben bis auf weiteres: Luftbuchungen.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Alexander Fischer

Alexander Fischer. Mensch. Historiker. Vater.

Alexander Fischer

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden