Inflation überschätzt?

Bürgergeld Eine "Überschätzung" der Inflation will der Bundesfinanzminister bei künftigen Bürgergeldanpassungen vermeiden. Aber geschätzt wird hier gar nichts. Es geht Christian Lindner um etwas ganz anderes.

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Natürlich war die Debatte über das Bürgergeld mit dem Vorstoß von Bundesarbeitsminister Hubertus Heil, der „Job-Verweigerern“ für 2 Monate die Regelleistung vollständig streichen will, und dem darauffolgenden Überbietungskonzert mit Sanktionsideen aus der Union nicht beendet. Der Vorsitzende der FDP und Bundesfinanzminister Christian Lindner hat mehr im Sinn, er will an den Kern der Grundsicherung und, wie er auf dem traditionellen Drei-Königs-Treffen der FDP verkündete. Arbeit müsse sich immer mehr lohnen als der Bezug von Sozialleistungen, sagte er, und: „Deshalb muss die Berechnungsmethode überprüft werden, damit die Inflation nicht überschätzt wird.“. Die Behauptung, dass sich Erwerbsarbeit wegen eines zu hohen Leistungsniveaus in der Grundsicherung nicht lohne, weil der Lohnabstand zu niedrig sei, gehört inzwischen zu den stehenden Behauptungen in der aktuellen Sozialstaatsdebatte. Dass sie falsch ist, wurde vielfach empirisch nachgewiesen (zum Beispiel hier dargelegt), was allerdings lautstarke Debattenteilnehmer*innen nicht an der Wiederholung hindert. Aber wie sieht es mit der zweiten Vermutung von Christian Lindner aus. Wird die Inflation in der Entwicklung des Regelsatzes in der Grundsicherung systematisch überschätzt? Wird sie überhaupt in der Vorausschau geschätzt?

Sehen wir uns zunächst im Rückblick die puren Zahlen an. Der offizielle Verbraucherpreisindex des Statistischen Bundesamts (der nebenbei bemerkt die faktisch für Menschen im Grundsicherungsbezug wirkende Inflation eher unterschätzt) lag im November 2023 bei 117,3 (Basiswert 100 = Jahresbeginn 2020). Zum Zeitpunkt der Einführung der Grundsicherung für Arbeitssuchende im Januar 2005 lag er bei 80,6. Ausweislich dieser Datengrundlage sind die Verbraucherpreise in diesem Zeitraum von fast 19 Jahren also um 45,5 Prozent gestiegen. Der Regelsatz für alleinlebende Erwachsene (Eckregelsatz) in der Grundsicherung lag im Januar 2005 in Westdeutschland (damals gab es noch eine Abstufung zwischen West- und Ostdeutschland) bei 345 Euro pro Monat. Im Dezember 2023 lag er bei 502 Euro. Im selben Zeitraum stieg also der Eckregelsatz um 45,5 Prozent. Schon auf den ersten sehr summarischen Rückblick kann also nicht von einer systematischen Überschätzung der Inflation in der Grundsicherung die Rede sein. Zu berücksichtigen ist freilich, dass es im Jahr 2023 mit der Einführung des Bürgergelds eine außerordentlich hohe Erhöhung des Regelsatzes um 11,8 Prozent gab. Schaut man sich die Entwicklung zwischen 2005 bis 2022 an, ergibt sich ein etwas anderes Bild. Zwischen Anfang 2005 und Ende 2022 stiegen die Verbraucherpreise um rund 40,2 Prozent und der Eckregelsatz um rund 30,1 Prozent. Für die längste Zeit seit der Einführung der Grundsicherung für Arbeitssuchende wurde die Inflation in den Regelleistungen also offenbar eher systematisch unter- als überschätzt, jedenfalls steht damit fest, dass bis zur Einführung des Bürgergelds Empfänger*innen von Grundsicherung von der allgemeinen Preisentwicklung abgekoppelt waren. Besonders deutlich wurde das im Jahr 2022. Die Verbraucherpreise stiegen damals in einem Jahr zwischen Januar und Dezember um 7,6 Prozent, der Eckregelsatz um gerade einmal 0,7 Prozent. Von einer Debatte über eine systematische Unterschätzung der Inflation in der Grundsicherung ist nichts überliefert. Damals erhielten erwachsene Grundsicherungsempfänger*innen durch das Einmalzahlungsgesetz lediglich einmalig 200 Euro (die allerdings nicht in die Basisberechnung für die weitere Entwicklung des Eckregelsatzes einflossen), Kinder und Jugendliche satte 20 Euro. Eine „Überschätzung“ der Inflation lag in der Vergangenheit also jedenfalls empirisch nicht vor, erst mit dem Jahr 2023 haben die Regelsätze überhaupt Anschluss an die generelle Preisentwicklung seit 2005 gewonnen (was nicht gleichbedeutend damit ist, dass die Kaufkraft dieses Betrags für Empfänger*innen von Grundsicherun gleich blieb).

Soweit der Rückblick. Nun aber steigt der Eckregelsatz zum Januar 2024 von 502 auf 563 Euro, also um rund 12,2 Prozent. Diese Anhebung basiert auf geltendem Recht, dem neben den Ampelparteien (zu denen Christian Lindners FDP gehört) auch die CDU/CSU zugestimmt hat. Wie aber wurden und werden die Regelbedarfe in der Grundsicherung ermittelt? Geschätzt wird hier, so viel darf schon verraten werden, nichts. Und die allgemeine Inflation, die sich im gemittelten Verbraucherpreisindex für alle Güter ausdrückt, ist auch weder die richtige noch die alleinige Messgröße für die Ermittlung eines Betrages, der systematisch das soziokulturelle Existenzminimum pauschalisiert abbilden soll. Gesetzlich ist die Festlegung der Regelbedarfe in den Paragrafen 28, 28a und 29 des SGB XII normiert. Hier wird ein zweistufiges sogenanntes Statistikmodell festgelegt. Aller 5 Jahre führt das Statistische Bundesamt eine Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS) durch, eine Sonderauswertung, die die Verbrauchsausgaben von Referenzgruppen im unteren Einkommensbereich ermittelt und damit die Grundlage zur Ermittlung der Regelbedarfe liefert. Auf dieser Basis wird eine Regelbedarfsermittlungsgesetz vorgelegt. Die letzte EVS stammt aus dem Jahr 2018, im Jahr 2023 wurde eine neue durchgeführt, deren Ergebnisse 2025 vorliegen werden. In der Zeit zwischen den EVS wird der Regelsatz nach einem gestuften Verfahren an die Verbraucherpreisentwicklung und die Entwicklung der Nettolöhne angepasst. Diese Methodik wurde mit der Einführung des Bürgergelds entwickelt, um die Inflation besser und zeitnaher in den Regelbedarfen abzubilden. Es gibt nun eine Basisfortschreibung und eine ergänzende Fortschreibung. In der Basisfortschreibung wird ein Mischindex gebildet, in den zu 30 Prozent die Nettolohnentwicklung und zu 70 Prozent die Preisentwicklung (dafür bildet das Statistische Bundesamt einen „regelbedarfsrelevanten Preisindex“) einfließen. Die jeweils maßgeblichen Komponenten werden für die aktuelle Fortschreibung zwischen dem Zeitraum vom 1.7.2021 bis 30.6.2022 und dem Zeitraum zwischen dem 1.7.2022 und dem 30.6.2023 verglichen. Die ergänzende Fortschreibung basiert ausschließlich auf der „Veränderungsrate der bundesdurchschnittlichen Entwicklung der Preise aller regelbedarfsrelevanten Güter und Dienstleistungen“, wobei der Zeitraum zwischen dem 1.4.2022 und dem 30.6.2022 mit dem Zeitraum zwischen dem 1.4.2023 und dem 30.6.2023 verglichen wird. Die Details der Berechnung sind der aktuell geltenden Regelbedarfsverordnung vom 14.9.2023 zu entnehmen. Dort lässt sich auch nachlesen, welche (rückschauenden) Revidierungen der Verbraucherpreisstatistik die aktuelle Anpassung zusätzlich beeinflussten. Mit anderen Worten: die aktuell so heftig diskutierte Anhebung der Regelsätze im Bürgergeld ist alles andere als Willkür oder Schätzung sondern eine rückblickende Anpassung an die tatsächliche Entwicklung der regelbedarfsrelevanten Verbraucherpreise (mehr Details dazu hier). Und um hier nicht den Eindruck zu erwecken, dass diese Regelsatzfortschreibung auf diese Weise alternativlos ist, sei daran erinnert, dass Sozialverbände und Wissenschaft mit guten Gründen andere Methoden stark machen, um nicht nur pures Überleben zu sichern, sondern Teilhabe zu ermöglichen. Die Vorsitzende des SoVD, Michaele Engelmeier antwortete Lindner denn auch bereits öffentlich: „Wir stimmen mit Christian Lindner nur in einem Punkt überein: Die Regelsätze müssen in der Tat überprüft werden,, denn sie sind nach wie vor zu niedrig.“.

Zusammenfassend kann man sagen: Für die Fortentwicklung der Regelsätze in der Grundsicherung wurde die Inflation jahrelang eher unter- als überschätzt, was ein Grund für die außerordentlich hohen Anpassungen in 2023 und 2024 war. Aber mit Blick auf die Äußerungen des Bundesfinanzministers lässt sich festhalten: Sie sind eine Irreführung, weil bei den Regelsätzen gar nichts geschätzt wird, es wird in der Rückschau eine tatsächliche Preisentwicklung nachvollzogen. Was Christian Lindner vorgetragen hat, war in erster Linie die Ankündigung, dass die FDP eine zentrale sozialpolitische Reform der Ampel zurückdrehen will.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Alexander Fischer

Alexander Fischer. Mensch. Historiker. Vater.

Alexander Fischer

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