Kein Bürgergeld für "Total-Verweigerer"?

Bürgergeld Ist ein hundertprozentiger Entzug der Regelleistung mit den Vorgaben aus Karlsruhe vereinbar? Nur in sehr theoretischen Einzelfällen, für die ein Gesetz den Aufwand kaum lohnt.

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„Kein Bürgergeld mehr für Job-Verweigerer“ titelt die BILD, CDU und FDP jubeln, eine „Frage der Gerechtigkeit“ ist es für den Bundesarbeitsminister, im Rest der SPD und bei den Grünen herrscht bislang betretenes Schweigen über das vorerst nur durch Pressemeldungen bekannt gewordene Vorhaben, denjenigen, die eine Arbeitsaufnahme verweigern, künftig die Regelleistung im Bürgergeld für maximal zwei Monate vollständig zu streichen. Da es im Folgenden weniger um die sozialpolitische Sinnhaftigkeit einer solchen Maßnahme geht, schicke ich voraus, dass ich sie unter verschiedenen Gesichtspunkten für falsch und kontraproduktiv halte. Hier soll es aber um die Frage gehen, ob dieses Vorhaben eigentlich mit den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts vereinbar ist.

Das Bundesverfassungsgericht hat am 5. November 2019 unter dem Aktenzeichen - 1 BvL 7/16 – ein Grundsatzurteil zu Sanktionen im Sozialrecht gefällt, das seinerzeit weite Beachtung fand. Das Bundesverfassungsgericht erklärte Sanktionen nach § 31 SGB II für verfassungswidrig, sofern sie einen Wegfall von mehr als 30 Prozent des maßgeblichen Regelsatzes umfassten, und sofern sie ungeachtet einer zwischenzeitlichen Erfüllung von Mitwirkungspflichten eine starre Dauer von 3 Monaten vorgaben. Das Bundesverfassungsgericht fand damals recht eindeutige Worte. In der Randnummer 158 der Urteilsbegründung lautet es:

„Die hier zu überprüfenden gesetzlichen Regelungen sind aber nicht in jeder Hinsicht verhältnismäßig. Nur die in § 31a Abs. 1 Satz 1 SGB II normierte Höhe einer Leistungsminderung von 30 % ist derzeit auf der Grundlage plausibler Annahmen hinreichend tragfähig begründbar. Hingegen genügt die weitere Ausgestaltung den verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht (aa). Es steht dem Gesetzgeber zwar frei, im Fall der wiederholten Verletzung einer Pflicht zu zumutbarer Mitwirkung erneut Sanktionen zu verhängen, doch sind Minderungen existenzsichernder Leistungen nach § 31a Abs. 1 Satz 2 SGB II in einer Höhe von 60 % des Regelbedarfs im Ergebnis jedenfalls unzumutbar (bb). Der in § 31a Abs. 1 Satz 3 SGB II vorgegebene vollständige Wegfall existenzsichernder Leistungen ist mit den Anforderungen des Grundgesetzes ebenfalls nicht zu vereinbaren (cc).“

Das Bundesverfassungsgericht hält also unmissverständlich fest: das Grundgesetz erlaubt es dem Gesetzgeber grundsätzlich, in der Grundsicherung mit Sanktionen Mitwirkungspflichten durchzusetzen. Zumutbar mit Blick auf die Vorgaben von Artikel 1 Abs. 1 („Die Würde des Menschen ist unantastbar.“) und Artikel 20 Abs. 1 Grundgesetz („Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat.“) sind für die Karlsruher Richter*innen aber nur Sanktionen, die den jeweils maßgeblichen Regelsatz bis zu einer Höhe von 30 Prozent mindern.

Wie verträgt sich diese höchstrichterliche Vorgabe nun aber mit dem Vorhaben des Bundesarbeitsministeriums, „Totalverweigerern“ (BILD) die Regelleistung für bis zu zwei Monate komplett, also zu 100 Prozent zu streichen, und nur noch die Kosten der Unterkunft weiter zu zahlen? Die BILD-Zeitung gibt folgende Antwort. Dort heißt es:

„Aktuell dürfen die Jobcenter maximal 30 Prozent der Stütze kürzen. Eine Folge aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 2019, das härtere Sanktionen verbot. Allerdings ließen die obersten Richter eine strengere Ausnahme zu: Wenn sich der Stütze-Empfänger ohne wichtigen Grund weigert, ein konkret bestehendes Angebot einer zumutbaren Arbeit anzunehmen. Diese Sonderregelung nutzt Hubertus Heil jetzt.“

Welche „Sonderregelung“ aus Karlsruhe kann hier gemeint sein? Heißt es nicht unmissverständlich im Urteil „Der (…) vollständige Wegfall existenzsichernder Leistungen ist mit den Anforderungen des Grundgesetzes (.)nicht zu vereinbaren.“?

Der Ankerpunkt des Gesetzgebungsvorhabens aus dem Bundesarbeitsministerium dürfte eine seinerzeit wenig beachtete Passage des Karlsruher Urteils sein, die sich in Randnummer 209 findet:

„Anders liegt dies folglich, wenn und solange Leistungsberechtigte es selbst in der Hand haben, durch Aufnahme einer ihnen angebotenen zumutbaren Arbeit (§ 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB II) ihre menschenwürdige Existenz tatsächlich und unmittelbar durch die Erzielung von Einkommen selbst zu sichern. Ihre Situation ist dann im Ausgangspunkt derjenigen vergleichbar, in der keine Bedürftigkeit vorliegt, weil Einkommen oder Vermögen aktuell verfügbar und zumutbar einsetzbar sind. Wird eine solche tatsächlich existenzsichernde und im Sinne des § 10 SGB II zumutbare Erwerbstätigkeit ohne wichtigen Grund im Sinne des § 31 Abs. 1 Satz 2 SGB II willentlich verweigert, obwohl im Verfahren die Möglichkeit bestand, dazu auch etwaige Besonderheiten der persönlichen Situation vorzubringen, die einer Arbeitsaufnahme bei objektiver Betrachtung entgegenstehen könnten, ist daher ein vollständiger Leistungsentzug zu rechtfertigen.“

Entscheidend ist hier freilich zunächst der Kontext, denn unmittelbar davor, bekräftigt das Gericht seine Konklusion: „Schon angesichts der Eignungsmängel und der Zweifel an der Erforderlichkeit einer derart belastenden Sanktion zur Durchsetzung legitimer Mitwirkungspflichten ergibt sich in der Gesamtabwägung, dass der völlige Wegfall aller Leistungen nach § 31a Abs. 1 Satz 3 SGB II auch mit den begrenzten Möglichkeiten ergänzender Leistungen nach § 31a Abs. 3 SGB II bereits wegen dieser Höhe nicht mit den hier strengen Anforderungen der Verhältnismäßigkeit vereinbar ist.“ Und ebenso wichtig ist die Lektüre der exakten Formulierung. Es heißt ausdrücklich, dass es die oder der Leistungsberechtigte „selbst in der Hand haben“ muss, die „menschenwürdige Existenz tatsächlich und unmittelbar durch die Erzielung von Einkommen selbst zu sichern.“ Das dürfte überhaupt nur dann der Fall sein, wenn ein konkret vorliegendes Arbeitsvertragsangebot (existenzsichernd und zumutbar!) abgelehnt wird, oder die unbegründete Weigerung vorliegt, eine zumutbare und existenzsichernde Arbeit fortzuführen. Nur in diesen engen Grenzen wäre also ein Entzug der vollständigen Regelleistung mit den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts vereinbar. Das Nichterscheinen zu einem Termin, die Nichtwahrnehmung eines vermittelten Vorstellungsgesprächs wären bspw. nicht ausreichend. Dennoch bleibt festzuhalten, dass das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil einen Weg aufgezeigt hat, auf dem im Einklang mit seinen Vorgaben ein vollständiger Entzug der Regelleistung in Einzelfällen möglich wäre. Für diese Konstellationen will die Bundesregierung offenbar nunmehr eine gesetzliche Grundlage schaffen. Mit der normalen Betreuungs- und Vermittlungspraxis in den Jobcentern der Republik hat dies freilich wenig zu tun, unterschriftsreife Arbeitsverträge werden dort selten vorgelegt. Und ein dreistelliger Millionenbetrag dürfte sich mit einer solchen Regelung für Einzelfälle kaum einsparen lassen. Eine seriöse Weiterentwicklung des Bürgergelds findet auf diesem Weg in keinem Fall statt. Auch wenn noch kein abgestimmter Gesetzestext vorliegt, kann man schon jetzt sagen: wenn das Gesetz in Karlsruhe Bestand haben soll, kann es nur auf so wenige Fälle anwendbar sein, dass der Aufwand für die Gesetzgebung kaum lohnt.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Alexander Fischer

Alexander Fischer. Mensch. Historiker. Vater.

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