Luftbuchung mit Lindner und Heil

Bürgergeld 170 Millionen Euro will die Bundesregierung laut Gesetzentwurf mit einer verschärften Sanktionsregelung im Bürgergeld einsparen. Eine völlige Luftbuchung, wie schon der erste Blick auf die Zahlen zeigt.

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Die BILD-Zeitung will es ganz genau wissen. „So vielen Menschen droht das Bürgergeld-Aus“, titelt das Blatt (Paywall). Berichtet wird über den neuen Haushaltsentwurf der Ampel-Regierung, aus dem folgendermaßen zitiert wird: „In der Grundsicherung für Arbeitsuchende entstehen durch die Regelung des Leistungsentzugs bei nachhaltiger Verweigerung der Aufnahme zumutbarer Arbeit Minderausgaben beim Bürgergeld in Höhe von rund 170 Millionen Euro jährlich. Davon entfallen rund 150 Millionen Euro auf den Bund und rund 20 Millionen Euro auf die Kommunen.“.

Die Formulierung steht tatsächlich so auf Seite 17 der Formulierungshilfe der Bundesregierung für das "Zweite Haushaltsfinanzierungsgesetz", die auch dem Autor dieses Beitrags vorliegt. Aber wie können Bundesfinanz- und Bundesarbeitsministerium auf diese Summe kommen? Die Formulierungshilfe enthält zur Berechnung keinen Hinweis. Werfen wir einen Blick auf die Sanktionsstatistik der Bundesagentur für Arbeit. Die letzten verfügbaren Jahresdaten liegen für 2022 vor (eine Auswertung findet sich hier). Im gesamten Jahr 2022 wurden insgesamt etwa 148.000 Leistungsminderungen als Sanktion verhängt. Der Löwenanteil davon betraf mit 68,8 Prozent Meldeversäumnisse. Etwa 19 Prozent hingen mit der Weigerung, eine Arbeit, Ausbildung oder Maßnahme aufzunehmen oder fortzuführen, zusammen. Etwa 28.000 Sanktionen wurden also im Jahr 2022 wegen Tatbeständen verhängt, die wenigstens annähernd dem entsprechen, was das Gesetzesvorhaben der Bundesregierung umfasst: Personen, die zumutbare Arbeit ablehnen, für maximal 2 Monate die Regelleistung vollständig zu entziehen. Wäre in all diesen Fällen für 2 Monate die Regelleistung vollständig gestrichen worden, wären rund 32 Millionen Euro an Regelleistungen nicht ausgezahlt worden. Ein Betrag von 170 Millionen Euro wäre, wie die BILD-Zeitung richtig berechnet, wenn rund 150.000 derartige Sanktionen pro Jahr nach der neuen Regelung verhängt würden, wenn mit anderen Worten z.B. alle Sanktionstatbestände des Jahres 2022, also auch die etwa 100.000 Meldeversäumnisse mit einem zweimonatigen Entzug des Regelsatzes belegt worden wären. Dies ist aber nicht geplant, wie aus der Formulierungshilfe ausdrücklich hervorgeht. Dort heißt es auf Seite 23 in der Gesetzesbegründung: „Abweichend von der in § 31a Absatz 4 Satz 1 geregelten Begrenzung der Minderungshöhe auf 30 Prozent des maßgebenden Regelbedarfs entfällt nach Absatz 7 Satz 1 der Leistungsanspruch in Höhe des Regelbedarfes, wenn erwerbsfähige Leistungsberechtigte eine zumutbare Arbeit nicht annehmen oder aufnehmen. Voraussetzung hierfür ist eine wiederholte Arbeitsverweigerung. Das bedeutet, dass das Bürgergeld wegen einer Pflichtverletzung nach § 31 Absatz 1 Satz 1 Nummer 2, § 31 Absatz 2 Nummer 3 oder § 31 Absatz 2 Nummer 4 innerhalb des letzten Jahres gemindert war. Der Wegfall der Leistungen ist auf den Regelbedarf begrenzt.“

Einer Summe von 170 Millionen Euro pro Jahr würde eine Sanktionspraxis entsprechen, in der pro Jahr zwischen 150.000 und 300.000 Menschen der Regelsatz für einen oder zwei Monate gestrichen wird. Dies wäre auf Basis der Erfahrungswerte nur erreichbar, wenn statt 148.000 Sanktionen (2022) ab 2024 insgesamt zwischen als 750.000 und 1 Million Sanktionen pro Jahr verhängt würden. In Zeit und Raum hieße das, dass 20 bis 25 Prozent aller rund 3,9 erwerbsfähigen Hilfebedürftigen künftig jedes Jahr von Sanktionen betroffen wären. Von diesen 3,9 Millionen Menschen sind aber rund 800.000 bereits erwerbstätig, stocken also mit dem Bürgergeld ihr Einkommen auf, über 500.000 Menschen sind davon bereits in arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen, mehr als 400.000 befinden sich in Ausbildung oder Studium usw. Insgesamt gelten lediglich rund 1,7 Millionen "erwerbsfähige Hilfebedürftige" laut offizieller BA-Statistik auch tatsächlich als arbeitslos. Das wäre dann die potenzielle Zielgruppe für 750.000 bis 1 Million Sanktionen pro Jahr (Stand: September 2023). Etwa jeder zweite dieser Menschen würde dann künftig pro Jahr mindestens einmal sanktioniert werden. Die aktuellste Sanktionsstatistik reicht bis November 2023 und weist für die ersten 11 Monate des vergangenen Jahres 147.145 neue Sanktionen aus. Eine solch extreme Verschärfung der Sanktionspraxis lässt sich aus dem Gesetzentwurf für sich genommen nicht heraus lesen. Sie würde aber mit ziemlicher Sicherheit auch den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts von 2019 widersprechen.

Die freundlichste Lesart der Formulierungshilfe der Bundesregierung ist also die, dass es sich bei den 170 Millionen pro Jahr um eine reine Luftbuchung handelt.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Alexander Fischer

Alexander Fischer. Mensch. Historiker. Vater.

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