What´s Left

Ein persönlicher Versuch. Über das Links-Sein und DIE LINKE.

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Ich wurde 1974 in Dresden geboren und hatte eine ziemlich normale ostdeutsche Kindheit. Meine Eltern gehörten zur mittleren Funktionselite der DDR, waren beide Mitglieder der SED, dennoch keine allzu bedingungslose Bejaher/innen der real existierenden DDR. Aber ich erinnere mich noch gut daran, wie stolz mein Vater ab und zu erzählte, dass sein Urgroßvater zu den Gründern der SPD in Leipzig zählte. Er machte ebenso wie meine Mutter gern Witze über den Staat, für den sie arbeiteten, beide ließen aber kaum Zweifel an einem Überzeugungskern erkennen, aus dem sie letztlich auch ihre Loyalität zu dem staatssozialistischen Experiment ableiteten, in dem sie lebten, in dem wir lebten. Wenn man das für DDR-Verhältnisse so sagen kann, hatte ich jenseits der staatlichen Erziehung eine eher linke politische Sozialisation. Als ich 15 war, fiel die Mauer, kurz vor meinem 16. Geburtstag kam die Wiedervereinigung. Noch davor war ich wie alle Kinder der 80er Jahre (auch die in der DDR) eins der Popkultur geworden, landete irgendwann beim Punk, in den 90er Jahren kam elektronische Musik dazu (damals sagte man Techno), die wir genauso wie den Punk in Abrisshäusern und verlassenen Fabrikhallen hörten, heute höre ich deshalb etwas schwer. Wir besetzten Häuser, Wohnungen, Kinos, sogar Ballhäuser, und wenn ich mich an diese Zeit heute erinnere, dann an einen Ausbruch der Freiheit, des Lebens, des Machens. „Time for Livin´“ sangen die Beastie Boys 1992, den Herzschlag, das Fieber einer unfassbar geilen Lebenslust spüre ich bis heute. „Als wir träumten“, heißt ein Buch von Clemens Meyer über diese Zeit. Es war für meine Generation ein Geschenk, das man nur aufheben musste. „Wir tanzen bis zum Ende“, stand auf einem Transparent, das an einem unserer Häuser hing. Nicht das Leben leben müssen, das für uns bereitgehalten wurde. Schule, Armee, Ausbildung, Ehe, Kinder, Schrankwand, Autowaschen, es gab so viel mehr Leben zu leben, als schon Montagfrüh auf Freitagnacht zu warten. War das links? Es war Leben und Freiheit.

Und natürlich erinnere ich mich an Nazis, massenhaft junge Männer, manche kannte ich noch aus der Schule oder aus dem Stadion, die sich in Bomberjacken schmissen, mit Baseballschlägern bewaffneten, uns jagten, bedrohten, schlugen, verletzten, manche so, dass sie nie mehr wieder gesund wurden oder starben. Wir wehrten uns, organisierten uns, überschritten selbst Grenzen, wurden Teil einer Zeit der Gewalt, die damals viele ignorierten, obwohl letztlich Zehntausende beteiligt waren. All das wurde inzwischen oft beschrieben, in Filmen und Büchern. Es gibt sogar einen Hashtag, die #Baseballschlägerjahre. Warum erzähle ich das? Nicht weil ich selbst so viel dazu beizutragen hätte, was noch nicht aufgeschrieben wurde, aber weil es letztlich der Ausgangspunkt ist, von dem ich tatsächlich „links“ wurde. Peter Richter hat es in „89/90“ gut beschrieben. Aus dem Nicht-Rechts-Sein wurde durch die Gleichgültigkeit einer im Transformationsschock taumelnden Gesellschaft ein Links-Sein, das am Anfang eigentlich vor allem ein Gegen-Nazis-Sein war. Und wenn ich ganz ehrlich bin, waren diejenigen, die sich wehrten und organisierten, auch die cooleren Leute. Bald hatten wir selbst alle eher kurze Haare, trugen Sneaker statt Schnürstiefel, und Mitte der 90er Jahre kam mit Hardcore-Punk und Techno auch schon der Veganismus. Ich stehe noch heute auf Turnschuhe, kann stundenlang über Fußball und Musik quaken, ernähre mich vegan, fahre gern Fahrrad und bin so oft es geht in der Welt unterwegs, kurz: ich bin ein „Lifestyle-Linker“, wie er im Buche steht, vor allem in einem.

Na gut, erst mal Lifestyle. Aber links? Wie und warum eigentlich? Antifaschismus, Antirassismus, gut und richtig, aber das war es noch nicht. Ich hatte das Privileg, dass mir meine Eltern über alle verlängernden Eskapaden hinweg ein Studium ermöglichten. Während dieser Zeit wurden aus den besetzten Häusern Projekte, bauten wirin einem alten Kindergarten ein soziales Zentrum auf, in dem bis heute wilde Parties steigen (hoffe ich doch, jedenfalls steht das AZ Conni noch, und der Schrott, den wir in einer langen Nacht an die Fassade schraubten, hängt auch noch). Wir veranstalteten Konzerte und Parties, kleine und große, und diskutierten, wie es Linksradikale in den 90er Jahren gern taten, weit weg von einer Transformationsgesellschaft, die wir als spießig und feindlich wahrnahmen (war sie nicht, aber Grautöne nicht zu sehen, war und ist das Privileg der Jugend). Und die Idee von der anderen Welt erschöpfte sich auch eher in abstrakten Träumen, bei alltäglichem Resignieren. Blumfeld sang 2001 über die „Diktatur der Angepassten“, und wir schauten selbst lieber herab als hin. Vermutlich auch weil ich die Angst um die eigene Existenz nicht kannte, was für ein weiteres Privileg! Ich jobbte hier und da, und eines Tages erzählte ich meinem Vater darüber, dass ich Streit mit einer Zeitung wegen eines Honorars hatte. Er schaute mich erstaunt an, als ich ihm sagte, dass ich kein Gewerkschaftsmitglied sei. Und so wurde ich eins. Mehr noch, ich besuchte Seminare, wurde Teamer und Trainer in der Bildungsarbeit, stieg in aller Frühe in Busse und fuhr in irgendeine Berufsschule abseits der großen Städte, lernte neue Menschen kennen, auch „Linke“, aber ganz andere, als ich kannte. Und das prägte mich, meinen weiteren Weg.

Nach dem Studium schlug ich den akademischen Weg aus und wurde Gewerkschaftssekretär in Berlin. Es war der Beginn der 2000er Jahre. Die Zeit, in der aus dem rot-grünen Modernisierungsprojekt die Agenda 2010 wurde. Wir erlebten fundamentale Niederlagen. Als 2003 der Streik um die 35-Stunden-Woche im Osten verloren ging, war ich wochenlang niedergeschlagen. Wir konnten jeden Tag in der Zeitung lesen, dass wir Ewiggestrige waren, die eine Arbeitswelt und einen Sozialstaat aus dem vergangenen Jahrhundert betrauerten. Aber wir hatten auch jeden Tag mit den Menschen zu tun, die ganz reale Opfer für eine Politik bringen mussten, die ihnen mit Ansage die Lebenschancen beschnitt. Die Vergessenen, die wir heute öfter in einem Polizeiruf sehen, als in den Nachrichten. Die Kinder, deren Eltern das Geld für das Frühstück fehlte. Die Jugendlichen, deren einzige Aussicht auf Job und Ausbildung das Weggehen war. Die Rentner/innen, die schon damals Flaschen sammelten. Die Betriebsrät/innen, die verzweifelt um ihre und die Jobs ihrer Kolleg/innen kämpften. Ich erlebte die Kämpfe um die Hartz-Gesetze, die Rotstifthaushalte der Landesregierungen in Berlin und Brandenburg. Ich stand mit hunderten streikenden Arbeiter/innen vor Werkstoren, mit tausenden Polizist/innen und Feuerwehrleuten vor dem Roten Rathaus, mit Hunderttausenden gegen Hartz IV vor dem Brandenburger Tor. „Just step out if you want to. Or stay in if you're bold”, sang Chuck Ragan, und es war mein Lebensgefühl dieser Jahre. Das Bewusstsein dafür, dass mein Linkssein und das von vielen anderen keine parteipolitische Repräsentation hatte, wurde immer stärker. Im Jahr 2004 ging ich nur widerwillig zur Europawahl, und ich wählte tatsächlich zum ersten Mal in meinem Leben die damalige PDS. Ironischerweise aus Protest. Was sich zu diesem Zeitpunkt als WASG herausbildete, sah ich mit skeptischer Neugier. Aber als sich mit dem gemeinsamen Antritt zur Bundestagswahl 2005 die Perspektive einer neuen linken Partei abzeichnete, trat ich in Berlin in die Linkspartei ein.

Warum? Weil es mir schlecht ging? Nein, ich war immer noch privilegiert, keines der Hartz-Gesetze bedrohte meine Existenz, keine Entlassungswelle bedrohte meinen Job. Und im abgerockten Schwarz-zu-Blau-Berlin, dem Peter Fox 2008 ein musikalisches Denkmal setzte, lebte (und wohnte!) es sich auch mit einem durchschnittlichen Arbeitseinkommen ganz hervorragend. Weil mich mit der Berliner Linkspartei besonders viel verbunden hätte? Auch nicht, ich hatte sogar gegen sie als Senatspartei protestiert. Weil ich ein geschlossenes sozialistisches Weltbild hatte, das nur eine sozialistische Partei repräsentieren konnte? Ich weiß noch nicht einmal, ob ich das heute von mir behaupten könnte. Gegen die sozialen Verheerungen des ungebremsten Neoliberalismus jener Jahre zusammenschließen, ja. Für praktisch spürbare Verbesserungen kämpfen, ja. Daraus ableiten, dass auch jeder kleine Schritt einen Kompass braucht, der die Visionen von einer besseren Zukunft auf einen utopischen Begriff bringt, so weit war ich damals nicht. Sozialabbau verhindern war die Pflicht, praktisch spürbare Verbesserungen erreichen die Kür. Ich trat in diese Partei im Vorgriff auf die spätere LINKE ein. Und auch das nicht einfach, weil ich dachte, es ließe sich besser protestieren, wenn es eine Partei gäbe, die den Protest ins Parlament trägt. Vor allem war es die pure Enttäuschung über das Scheitern der rot-grünen Illusion und die Hoffnung, Oskar Lafontaine und Gregor Gysi sprachen auch das damals offen aus, mit Druck von links, die politische Achse des Landes zu verschieben. Ob in Regierung oder Opposition, dazu hätte ich vermutlich noch nicht mal eine Meinung gehabt. Je nach dem, hätte ich vermutlich schon damals geantwortet, ohne mir unter Regieren überhaupt etwas Genaues vorstellen zu können, weil ich mir diese Frage gar nicht gestellt habe.

Die Entscheidung für die Linkspartei änderte bald auch meinen persönlichen Weg grundlegend. 2006 begann ich, für die neu gebildete Linksfraktion im Bundestag zu arbeiten, ab 2007 war ich Mitarbeiter von Klaus Ernst und durfte die Gründung dieser neuen Partei sehr nahe erleben. Ich erinnere mich noch an einen Abend im Mai 2007 im Bundestag. Klaus Ernst und Lothar Bisky kamen zusammen in sein Büro, nachdem sie für Linkspartei und WASG den Vertrag über die Parteibildung parafiert hatten. Sie waren euphorisch, tranken mehr als ein Glas auf das, was hinter ihnen und vor uns allen lag. Ich erlebte den Gründungsparteitag im Jahr 2007, arbeitete ab 2008 im „Team West“ des Parteivorstands, organisierte Wahlkämpfe in Bayern, in Hessen, für den Bundestag. Ich lernte viele Menschen kennen, die bis heute meine Freundinnen und Freunde sind, egal an welchen Trennlinien sich unsere Partei gerade mal wieder teilt. Ich erlebte die Krisenjahre der Partei nach der Bundestagswahl 2009 als Pressesprecher des Parteivorstands, stand 2012 auf dem Göttinger Parteitag vor dem Redepult, als Gregor Gysi von dem „Hass“ sprach, der schon damals die Linksfraktion im Bundestag und die Partei zu sprengen drohte. Und ich weiß noch, wie ich genau in diesem Moment dachte, du hast den Anfang erlebt, vielleicht nun auch das Ende. Es war nicht das Ende, aber, so habe ich das damals erlebt, sehr harte Arbeit, die 2013 in ein Wahlergebnis mündete, das weit vom Erfolg von 2009 entfernt war, aber eben auch der manifeste Ausdruck davon war, dass es uns in 15 Monaten gelungen war, uns am eigenen Schopf von der im Juni 2012 schon in Umfragen gerissenen Fünfprozentmarke wieder auf über 8 Prozent zu ziehen. Ich weiß noch gut, wie satt ich nach Göttingen die innerparteilichen Auseinandersetzungen hatte, wie sehr ich wollte, dass es diese komische Partei DIE LINKE weitergibt.

Warum? Weil sie mir einen gut bezahlten Job gab und Dinge erleben ließ, die nur wenige erleben durften? Vielleicht auch, aber gewiss nicht, weil ich genau diesen Job brauchte. Nach Göttingen wurde mir (anderen schon viel früher) schrittweise klar, dass die Idee einer antineoliberalen Sammlungsbewegung, viel mehr hielt DIE LINKE damals im Kern tatsächlich nicht zusammen, kein dauerhaft tragfähiges Fundament für eine Partei war, die dauerhaft links von SPD und Grünen Politik machen und die Welt tatsächlich verändern wollte. Und musste. Es waren die Jahre, in denen erst die Weltwirtschaft am Abgrund stand, dann die Europäische Union, als maßgeblich Deutschland den südeuropäischen Ländern zerstörerische Austeritätsprogramme verordnete. Und in denen mir klar wurde, dass sich all das nur ändern und verbessern ließ, wenn im Herzen Europas eine andere Bundesregierung Abschied von jenem Steinzeitmonetarismus nehmen würde, mit dem Wolfgang Schäuble im Sommer 2015 beinahe tatsächlich Griechenland aus dem Euro getrieben hätte. Alexis Tsipras warf uns später in seiner freundlich-diplomatischen Art vor, dass es kein Naturgesetz war, wenn er 2015 mit einem CDU-Finanzminister verhandeln musste, es hätte ja nach der Bundestagswahl 2013 (vorläufig letztmalig) eine rot-rot-grüne Mehrheit im Bundestag gegeben. Eine vergebene Chance, so empfand ich das, auch wenn mir damals nicht annähernd klar war, was das in Zeit und Raum bedeutet hätte, was es mit dieser LINKEN gemacht hätte.

Syriza in Griechenland zeigte ganz praktisch, dass es möglich war, von links und von vorn zu regieren. Die Chance, das hier auszuprobieren, das damals Undenkbare zu tun, bot sich in Thüringen, wo sich DIE LINKE 2014 auf den Weg machte, eine rot-rot-grüne Landesregierung unter Führung eines linken Ministerpräsidenten zu schmieden. Und ich hatte das Privileg, dabei zu sein, erst im Wahlkampf, dann als erster Sprecher der neuen Landesregierung. Im Herbst 2014 spürte ich tatsächlich wieder so etwas wie einen Aufbruche, besser, ein Aufbrechen zu neuen Ufern. Wir hatten uns lange und (wie wir dachten) gut vorbereitet, wir gingen mit einem Plan in die Verhandlungen, aber als am 5.12.2014 tatsächlich Bodo Ramelow zum Ministerpräsidenten von Thüringen gewählt wurde, rieb ich mir die Augen. Und das Abenteuer begann erst. Kaum waren wir richtig angekommen, stiegen die Flüchtlingszahlen in ungekannte Höhen, und im Herbst 2015 mussten auch in Thüringen jeden Tag hunderte, manchmal tausende Menschen mit einem Dach und Essen versorgt werden. Wir lernten im Gehen. Ich saß plötzlich nicht mehr im Parteivorstand einer linken Randpartei sondern hinter einem von 16 Regierungschef/innen in der Ministerpräsident/innenkonferenz, lernte mit 40, wie komplex jene Entscheidungsprozesse (und deren Umsetzung) waren, die wir aus der Opposition heraus so oft neu erfunden hatten, aber eben nur auf geduldigem Papier. Jetzt kam es ganz anders auf das an, was wir sagten und taten. „In Turnschuhen an die Spitze“ sangen die Beginner, und auf Turnschuhen ging ich immer noch früh morgens in die Erfurter Staatskanzlei, aber ein Anzug und für alle Fälle auch eine Krawatte hingen nun dort.

Zwei Jahre lang durfte ich dieses Abenteuer miterleben, es waren zwei Jahre, die uns alle, die mich noch einmal sehr veränderten. Und es ging weiter, als ich zurück in Berlin 2016 Staatssekretär wurde und für die neue rot-rot-grüne Landesregierung arbeitete, bis heute arbeite. Dass der Staat „kein Fahrrad“ ist, wie es Harald Wolf treffend sagte, daran werden wir hier bis heute jeden Tag erinnert. Alles wurde schnell sehr konkret, die Erfolge, die Misserfolge, die Coups und die Fehler, alles hatte und hat praktische Folgen für echte Menschen. An meine Partei DIE LINKE dachte und denke ich dabei an ganz vielen Tagen nicht oder nur wenig. Dass sie sich verändert hat, diese LINKE, das ging auch an mir nicht vorbei. Am Nachmittag des Wahlsonntags 2017 stand ich vor der Berliner „Arena“, wo die Wahlparty der LINKEN steigen sollte. Und ich sagte in mein Telefon eine Prognose (zu der schon damals wenig Fantasie gehörte), die sich wenig später bewahrheiten sollte. Punkt 18 Uhr begann Sahra Wagenknecht damit, ein angesichts der Rahmenbedingungen eigentlich passables Ergebnis für DIE LINKE als Niederlage darzustellen, die darauf zurückzuführen sei, dass die Partei DIE LINKE nicht ihren programmatischen und strategischen Rezepten gefolgt sei.

DIE LINKE war schon immer eine elektorale Plattform, die die Sichtweisen und Interessen von vordergründig sehr verschiedenden Menschen und Milliieus in einen Politikansatz goss. Gut gemanagt und halbwegs schlau strategisch verarbeitet war das auch eher eine Stärke als eine Schwäche. Aber mit einer Bundestagsfraktionsvorsitzenden, die mit dem Wahlabend 2017 begann, das Trennende zwischen diesen Menschen zu betonen und als Spaltlinien zu markieren, wurde es zu einer Schwäche, die bei der Bundestagswahl 2021 angesichts der Prominenz von Sahra Wagenknecht und der strategischen Zielstrebigkeit, mit der sie ihr Projekt der Spaltung der LINKEN-Wähler/innenschaft vorantrieb, selbst mit einer perfekten Performance des gesamten restlichen Führungspersonals nicht zu kompensieren gewesen wäre. Die real existierende LINKE des Sommers 2022 ist ein Produkt verpasster Chancen und von aus Angst umgangenen Erneuerungsprozessen. Diese Partei erduldet seit Jahren, dass sich ihr prominentestes Mitglied als Enfant Terrible inszeniert und ihre Buchverkäufe mit Talkshowauftritten ankurbelt, von denen jeder einzelne Mitglieder und Wähler/innen kostet. Sie hat eine dysfunktional geführte Bundestagsfraktion, die seit Jahren die Partei destabilisiert, anstatt ihre Ressourcen in praktische Politik zu investieren, und in der jede Absurdität geduldet wird, solange sie die Fraktionsführung nicht in Frage stellt. Eine real existierende LINKE, die sich in programmatischen, strategischen und personellen Selbstblockaden eingerichtet hat. Und zu allem Überfluss sind gerade wieder mal die zehn Jahre um, und damit das Intervall, in dem die ewig gleichen Protagonist/innen auf einem Parteitag uralte Fraktionskämpfe als Farce wiederaufführen. Gera, Göttingen, Erfurt, es passiert so zuverlässig wie der Ehekrach zu Weihnachten, und es ist egal, welche Weltkrise sich gerade rund um diese Partei aufbaut.

Auch nach diesem hoch aufgeladenen Erfurter Parteitag sieht die Situation der Partei auf den ersten Blick nicht viel besser aus. Die Partei hat eine neu gewählte Führung, deren Aufgabe es jetzt sein wird, die erst in den kommenden Monaten anstehende Zuspitzung der strategischen und programmatischen Auseinandersetzungen politisch zu bearbeiten und gleichzeitig die Grundlagen dafür zu legen, dass DIE LINKE 2024 und 2025 bundesweit überhaupt wahlkampffähig wird. Sahra Wagenknechts erste Reaktionen auf diesen Parteitag signalisieren, dass sie keinesfalls davon abrückt, die Partei auf ihren Kurs zu zwingen oder sie eben zu zerstören. Entweder DIE LINKE wird zu einer "Liste Wagenknecht", dieses Projekt ist in Erfurt vorerst gescheitert, oder es kommt über kurz oder lang allen Dementis zum Trotz zum Versuch der Abspaltung einer Formation, die mit dem politischen Kapital des Namens Sahra Wagenknecht den Versuch unternehmen wird, das der aktuellen Situation innewohnende (im Kern rechts-)populistische Moment für ein Programm zu nutzen, das Klaus Lederer treffend mit "Brot für alle und Frieden mit Russland" umschrieben hat.

Wird diese real existierende LINKE gebraucht? Ich weiß es offen gestanden nicht. Ich kann immer noch auf kein geschlossenes Weltbild zurück greifen, das für mich ausreichen würde, eine Partei zu unterstützen, nur weil sie eine sozialistische Utopie unterstützt, diese aber lieber auf der Zuschauertribüne auf Transparente schreibt, anstatt auf dem Spielfeld Tore zu schießen. Ich gestehe, dass ich mehr Keynes als Marx gelesen habe, aber von diesem Karl Marx ist mir der liebste Satz sein kategorischer Imperativ, „alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist.“ In diesem Satz ist die Idee einer praktischen Bewegung enthalten, der ich mich tatsächlich zugehörig fühle, und die sich seit über 150 Jahren durch die Geschichte bewegt. Ilja Ehrenburg beschreibt in „Der Fall von Paris“ die berühmte Demonstration der sich vereinigenden Linksparteien vom 14. Juli 1935, die zur Geburtsstunde der Volksfront wurde, die Frankreich vor dem Faschismus rettete, aber nicht vor dem Überfall der Deutschen. An diesem 14. Juli marschierten sie alle zusammen, die Generationen, die Arbeiterinnen, die Arbeiter, die Angestellten, an der Spitze grauhaarige Greise, die letzten Überlebenden der Pariser Kommune von 1870/71, deren Genossinnen und Genossen für dieselbe Idee kämpften, hinter der jetzt Hunderttausende marschierten, Alte und Junge, Männer und Frauen, Arbeiter/innen und Angestellte. Sie wussten nicht, welche Niederlagen auf sie warteten, welche Katastrophe sich anbahnte. Aber 1936 führte die Volksfrontregierung die gesetzliche 40-Stunden-Woche und einen Urlaubsanspruch ein. Aus Hoffnung wurde eine Reformpolitik für Millionen. Am Abend des 20. Juli 2001, dem Tag an dem Carlo Giuliani erschossen wurde, diskutierten in Genua in einem Stadion Tausende darüber, wie es nun weiter gehen sollte, Student/innen, Autonome, grauhaarige Gewerkschaftsführer, sie sprachen nicht von „ihr“ sondern von „wir“, von EINER Bewegung, von Fehlern, von der Wut, von der Unmöglichkeit, die neue Welt mit Steinen zu erkämpfen, von der Hoffnung, von den Chancen, die eine nach Hunderttausenden zählende Bewegung nutzen konnte.

Zu viel Pathos? Vielleicht. Aber die lächerliche Vorstellung, die Linke hätte sich irgendwann in der Geschichte voluntaristisch die Kämpfe aussuchen und nach Wichtigkeit sortieren können, hat immer zuverlässig in Spaltung und Handlungsunfähigkeit geführt. Es ist eben dieser eine Satz von Marx, der eine Idee formuliert, die eine Bewegung durch die Geschichte trug und trägt, mit Kämpfen, Siegen, Niederlagen, Fehlern, Verbrechen, Opfern, Irrtümern, Untergängen, Neuanfängen. Würde die Welt von heute ohne diese Bewegung(en) so aussehen, wie sie aussieht? Hätte Bismarck die gesetzliche Sozialversicherung eingeführt, wenn sich Arbeiterinnen und Arbeiter nicht zu Millionen für ihre Rechte organisiert hätten? Gäbe es bezahlten Urlaub und Krankengeld ohne gewerkschaftlich organisierte Arbeiterinnen und Arbeiter? Wäre Kreuzberg mehr als eine Autobahnraststätte ohne die Hausbesetzerinnen und Hausbesetzer? Würde sich diese Gesellschaft um sexuellen Missbrauch und Belästigung scheren, wenn Feministinnen nicht Frauenrechte (und vor rund 100 Jahren das Frauenwahlrecht) erkämpft hätten? Gäbe es überhaupt irgendeinen Mieterschutz ohne die Mieter/innenbewegung? Würden Konzerne freiwillig über Klimaschutz reden und müssten sich an Regeln halten, wenn sie nicht eine Umweltbewegung seit Jahrzehnten nerven würde? Wäre die Ächtung der Diskriminierung von LGBT-Menschen heute demokratischer Konsens, wenn sich 1969 Schwule und Lesben in New York nicht gegen Polizei-Übergriffe zur Wehr gesetzt hätten? Wäre dieses Land ein Einwanderungsland, wenn nicht Migrant/innen von der ersten Stunde an für ihre Rechte gekämpft hätten? Wäre die Materialisierung dessen, worum diese Bewegungen gekämpft haben, ohne die Transmissionriemen linker Parteien möglich geworden? Würden Kinder in Berlin kostenlos in der Schule essen und den ÖPNV nutzen können, wenn nicht eine Mitte-Links-Regierung das Geld dafür in die Hand genommen hätte? Haben Linke die Welt verändert? Ja. Gibt es noch Dinge, um die es sich zu kämpfen lohnt, die erkämpft werden müssen? Mit Sicherheit! Kann DIE LINKE Teil dieser Kämpfe, dieser Bewegungen, der materialisierten Veränderung sein? Vielleicht.

Viel Zeit zum Nachdenken wird nicht bleiben. Man muss nicht sehr weit in die Zukunft schauen, um die praktische Herausforderung zu sehen. Niemand anders als der Präsident der Bundesnetzagentur prophezeit, dass in drei Monate viele Menschen in diesem Land nicht mehr in der Lage sein werden, ihre Gas- und Stromrechnung zu bezahlen. Gleiches wird für Hunderttausende gelten, wenn sie ihren wöchentlichen Lebensmitteleinkauf bezahlen müssen. Wie lange eine Bundesregierung, deren Wirtschaftsminister in dieser Situation nicht in den Preismechanismus eingreifen will, und deren Finanzminister sich vor allem Sorgen um die Schuldenbremse macht, diese Situation mit einer Mischung aus Resignation und Geraune beantworten kann, spielt schon jetzt kaum mehr eine Rolle. Auf dieses Land rollt innerhalb von Wochen eine außerordentliche soziale Krisenlage zu, die alles durcheinander wirbeln und sehr schnelles praktisches Handeln erfordern wird. Zeit für richtunglosen Streit? Zeit für Haltungsnoten von der Zuschauertribüne? Zeit zum Machen!

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Alexander Fischer

Alexander Fischer. Mensch. Historiker. Vater.

Alexander Fischer

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