Das Verschweigen brechen

Antiziganismus Noch immer muss das Gedenken an die vom NS-Regime ermordeten Sinti und Roma erkämpft werden
Ausgabe 31/2020
Protest am Denkmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma (siehe unten)
Protest am Denkmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma (siehe unten)

Foto: Carsten Koall/Getty Images

Ferry Janoska war zwölf Jahre alt, als sein Vater ihn 1972 aus der Tschechoslowakei nach Österreich schmuggelte, im Benzintank eines umgebauten Autos. Die Familie floh, um im Burgenland ein neues Leben zu beginnen. Vater Janoska arbeitete dort an seiner Geigenkarriere, wurde mit dem Verdienstkreuz des Burgenlandes ausgezeichnet. Sein Sohn Ferry, klassischer Musiker und Komponist – später mit der gleichen Auszeichnung geehrt –, heiratete eine Tirolerin und bekam mit ihr zwei Kinder. Eine österreichische Bilderbuchfamilie. Und doch: nichts als Glück gehabt. Die Vorfahren der Janoskas väterlicherseits gehörten zur Minderheit der Roma und entkamen der Vernichtung durch das NS-Regime. In der Nazizeit gab es im Burgenland mit Lackenbach das größte regionale Sammellager für Roma. 4.000 Roma waren dort Qual und Not ausgesetzt, bevor sie in Konzentrationslager deportiert und ermordet wurden. Von den 10.000 österreichischen Sinti und Roma kehrten nach dem Krieg nur 800 zurück.

Gedenktag 2. August

Die Roma seien nicht nur physisch, sondern auch im kollektiven Gedächtnis ausgelöscht worden, man wisse über sie fast nichts, sagt Ferrys Tochter Katharina Janoska, geboren 1988. Das Klischee des „Zigeuners“ mit Geige und der Puszta-Kitsch hielten sich hartnäckig. Früh lernte Katharina, sich nicht als Romni zu zeigen, um sich vor Rassismus zu schützen. Romanes, die Sprache der Roma, ist ihr fremd, mit ihrer Mutter spricht sie Tirolerisch, mit ihrem Vater Ungarisch. „Es gäbe mich nicht, hätten die Burgenländer meine Familie nicht so warmherzig aufgenommen“, sagt sie. Als Teenager engagierte sich Katharina für diskriminierte Roma in der Slowakei. Ihr Studium in Wien schloss die Literaturwissenschaftlerin mit einer Arbeit über die Rolle von Roma in der Literatur ab. „Es gibt auch positive Roma-Figuren, wie etwa die Carmen oder Esmeralda. Sinti und Roma werden romantisiert, man schreibt ihnen Leidenschaft, Freiheitssinn und Naturverbundenheit zu.“ Dann wieder halte man sie für Kriminelle und Überträger von Krankheiten. Ambivalente Gefühle gegenüber einer Minderheit, die man aus purer Unkenntnis fürchtet und stigmatisiert.

Katharina Janoska arbeitet dafür, dass sich dies ändert. 2019 brach sie mit ihrem Buch KriegsROMAn das Schweigen. Offen erzählt die Autorin und ORF-Moderatorin seither über ihre Herkunft als Romni und Burgenländerin. In der NS-Zeit gab es in ihrer Familie sowohl Verfolgte als auch Verfolger. Für Janoska kein Widerspruch: „Die Roma werden bis heute als gesonderte Gruppe betrachtet, ich aber betone unser aller Gemeinsamkeiten.“ Auslöser für ihr Buch waren die Geflüchteten, die ab 2015 nach Österreich kamen – so wie einst ihre Familie. Besonders ihr Vater war erschüttert über die Anfeindungen, denen diese ausgesetzt waren. Er fand den Zulauf für die FPÖ sehr beunruhigend. Das weckte alte Ängste: Würden die Janoskas bald die Nächsten sein?

Die Nationalsozialisten und ihre Komplizen im faschistisch besetzten Europa töteten insgesamt eine halbe Million Sinti und Roma. Überwiegend kam es dazu bei Massakern der SS-Einsatzgruppen in Osteuropa. Die genaue Zahl der Ermordeten, die meisten Namen der Opfer sind nicht bekannt. Ab 1943 wurden 23.000 der als „Zigeunerplage“ verunglimpften Menschen aus elf europäischen Ländern nach Auschwitz-Birkenau verschleppt. Die Nazis vergasten die letzten 4.300 Überlebenden, die im Lager noch aktiv Widerstand leisteten, im Hochsommer 1944. Daher gilt der 2. August als Tag des Gedenkens für den Porajmos, den Genozid an Sinti und Roma. Ein Völkermord, der lange Zeit kaum erforscht war und wenig öffentliche Aufmerksamkeit fand. Erst 2015 wurde der 2. August zum Europäischen Gedenktag für Sinti und Roma erklärt – nach einem Leben im Schatten des Holocaust, einem langen Kampf um Anerkennung als verfolgte Minderheit. In Deutschland war es der Kanzler Helmut Schmidt (1974 – 1982), der 1982 die Verbrechen an Sinti und Roma endlich als Völkermord anerkannte.

In diesem Jahr gibt es wegen der Corona-Pandemie am 2. August in Auschwitz nur eine Kranzniederlegung im kleinen Kreis. Der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma veröffentlicht seit Anfang Juli täglich ein Porträt von Opfern oder Überlebenden, um diesen ein Gesicht zu geben. Wie das von Rosa Blach, einer Überlebenden, die als Elfjährige mit ihrer Familie ins Zwangslager Salzburg-Maxglan verschleppt wurde und an Knochentuberkulose erkrankte. Während ihre Eltern und fünf Geschwister nach Auschwitz transportiert und dort ermordet wurden, gelang es Rosa, mit ihrer Tante und einer Schwester nach Italien zu fliehen. In Augsburg begegnete sie später ihrem zweiten Mann, Robert Herzenberger aus Stettin, der überlebt, aber viele Angehörige verloren hatte. Zwei seiner Schwestern wurden zwangssterilisiert.

Rosas und Roberts Tochter Marcella Reinhardt kam 1968 im Augsburger „Fischerholz“ zur Welt, einer Nachkriegssiedlung aus Baracken und Bauwagen ohne fließendes Wasser und Kanalisation. Marcellas traumatisierte Eltern weinten und schrien nachts häufig im Schlaf. Wenn sie mit Behörden und Wiedergutmachungsanträgen nicht weiterwussten, wurde Marcella als Jugendliche oft aufgefordert: „Kind, lies mal.“ Marcella erlebte früh, wie das Schicksal der Überlebenden nicht ernst genommen wurde und Menschen erneut Diskriminierung ertragen mussten. 2015 gründete sie den Regionalverband Deutscher Sinti und Roma Schwaben, dem sie seither vorsitzt. Ihre Tante Frederika Brand, heute 83 Jahre alt, sagte unter großen Mühen bei der feierlichen Einweihung als Zeitzeugin aus.

Marcella Reinhardt will sich auch politisch für die Interessen der Sinti und Roma einsetzen und ist deshalb in die CSU eingetreten. „Auch wir sind Christen“, sagt die Sinteza. Sie kämpft dafür, dass das frühere Außenlager des KZ Dachau, die Halle 116 in Augsburg, zu einem Lernort umgebaut wird. Reinhardt wollte auch das „Fischerholz“ als Halteplatz für fahrende Sinti und Roma bewahren. Die Stadtverwaltung jedoch verwandelte den historischen Ort im Vorjahr in eine Müllhalde.

Alexander Diepold, Jahrgang 1962, erinnert sich ebenfalls an das „Fischerholz“. Seine Mutter Loli war bereits mit 16 Jahren verheiratet. Als sie 18 Jahre alt war, gebar sie Alexander nach einer Liebesbeziehung mit einem deutlich älteren, ebenfalls verheirateten Mann, von dem sie später immer behauptete, er sei aus Sardinien gekommen. Loli war so unglücklich, dass sie – schwanger mit Alexander – einen Suizidversuch unternahm, der aber fehlschlug. Das Baby wurde deshalb in Pflege gegeben. Loli holte den Jungen erst mit sieben Jahren zu sich nach Hause. Doch die Alkoholsucht ihres neuen Partners, eines Polizisten, führte zu häuslicher Gewalt. Sie floh mit ihren Kindern – in acht verschiedene Wohnungen, am längsten blieb sie im „Fischerholz“. Alexander kam ins Kinderheim zurück, betreut von katholischen Schwestern. Er hatte gerade mal zweieinhalb Jahre mit seiner Mutter verbracht – sie blieb für ihn stets eine Fremde.

Kultur des Vergessens

Mit 18 Jahren setzte er seinen Wunsch durch, selbst eine Heimgruppe zu leiten. „Es waren fünf Kinder, mit denen niemand zurechtkam, doch ich traute mir das zu, und es klappte“, erzählt der Münchner. Als Erzieher verhalf er weiteren Jugendlichen, die in Wohngemeinschaften wie in Familien lebten, zu einem stabilen Dasein. Es folgte der Schritt zum Sozialpädagogen, 1987 gründete er in München sein eigenes Heim, von den Kindern „Madhouse“ getauft. „Ab 1995 kamen Sinti-Kinder zu uns. Ich hatte einen engen Draht zu ihnen, wir verständigten uns fast ohne Worte.“ Alexander Diepold bekam Einblicke in eine oft desolate Welt. In vielen der betreuten Sinti-Familien waren psychische Erkrankungen und Sekundärtraumatisierungen als Spätfolgen der NS-Zeit offensichtlich. Die Sinti vertrauten ihm. „Du bist einer von uns“, sagten sie ihm wiederholt. Diepold wehrte ab: „Ich engagiere mich für Randgruppen, bin deshalb aber noch lange kein Sinto.“

Dann bat ihn eine alte Sinteza: „Frag deine Mutter, ob sie Romanes spricht.“ Und sie wollte wissen, ob diese einen Spitznamen habe. „Loli, von Lolita“, antwortete er. Die alte Frau klärte ihn auf, so nenne man unter Sinti Frauen mit roten, hochgebundenen Haaren. Als der 33-Jährige seine Mutter damit konfrontierte, wurde sie bleich und schwieg. Erst beim zweiten Gespräch gestand Loli, dass sie Sinteza sei. Kurz vor ihrem Tod im Jahr 2016 enthüllte sie, dass auch Alexanders Vater ein Sinto gewesen sei. „Mein ganzes Leben lang wurde mir erzählt, mein Vater sei Italiener. Das war wie ein Schlag ins Gesicht für mich“, erinnert sich Alexander Diepold. Nach einiger Überwindung, weil er fürchtete – wie die meisten Sinti und Roma, die ihre Identität verschweigen –, sich und seiner Arbeit dadurch zu schaden, bekannte sich der Pädagoge zu seiner Herkunft.

Das „Madhouse“ beschäftigt heute 33 Mitarbeiter, zehn davon sind Sinti und Roma. Der Gründer wirkte in der bayrischen Landeshauptstadt daran mit, dass seit 2018 am Platz der Opfer des Nationalsozialismus jährlich auch der Sinti und Roma gedacht wird, die am 13. März 1943 deportiert wurden. Derzeit ist Diepold Mitglied eines breiten Aktionsbündnisses, das die zeitweilige Sperrung oder gar den Abbau des Denkmals für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma Europas in Berlin verhindern will.

Das Denkmal, gestaltet von dem israelischen Künstler Dani Karavan, wurde nach viel Streit (etwa darüber, ob das Wort „Zigeuner“ im Denkmaltext verwendet werden könne) 2012 endlich eingeweiht. Doch Ruhe soll nicht einkehren: Der Berliner Senat und die Deutsche Bahn wollen unter der Gedenkstätte eine neue S-Bahn-Strecke bauen. „Unfassbar!“, sagt Diepold. „Das ist ein symbolisches Grab für die ermordeten Sinti und Roma. Selbst ein temporäres Schließen würde die Erinnerungskultur beschädigen und eine Kultur des Vergessens fördern“, erklärt er erregt. Gemeinsam mit Romeo Franz nahm er an Gesprächen mit dem Senat teil. Franz ist grüner Abgeordneter im EU-Parlament, der erste Sinto in dieser Position, Nachkomme von Opfern und Überlebenden. Gleichgültig, wie erfolgreich Romeo Franz ist, das Leben seiner Familie durchziehe die Erfahrung von Diskriminierung, meint er. Schon in der Schule setzten ihn die Lehrer als „Zigeunerkind“ auf die hinterste Bank. Der Berufsmusiker hat das Klangbild für das Berliner Denkmal komponiert und eingespielt. „Wir akzeptieren keine Kompensationseinrichtung, sondern fordern, dass das Denkmal mit seiner gesamten Anlage, ebenso wie das jüdische, zum Zwangspunkt erklärt wird“, sagt Franz, enttäuscht über den Mangel an Einfühlungsvermögen im Berliner Senat.

Auch Dani Karavan in Tel Aviv ist entrüstet: „Die Sinti und Roma sind genauso wie die Juden umgebracht worden und haben keine Ruhestätte bekommen. Das hier betrifft uns gemeinsam. Wäre dies ein Denkmal für Juden, käme man in Deutschland nicht einmal auf die Idee, es anzurühren“, sagt der fast 90-Jährige. Nach Berlin möchte er nie mehr zurückkehren.

Alexandra Senfft ist Publizistin und beschäftigt sich besonders mit den intergenerationellen Folgen des NS-Regimes

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