Kampf der Narrative

Israel Die zivilgesellschaftliche Opposition hat einen schweren Stand bei ihrem Protest gegen den Gaza-Einsatz der Armee
Ausgabe 21/2018

Für Uri Bloch aus Haifa ist es selbstverständlich, dass die US-Botschaft jetzt in Jerusalem liegt, schließlich sei das die Hauptstadt Israels. Der 86-Jährige, der 1947 als Teenager aus Bern allein nach Palästina kam, ist wohl das, was man einen typischen Vertreter der israelischen Mitte nennen könnte. Offizielle Darstellungen der Regierung stellt er nicht in Frage. Für ihn ist ausgemacht, dass Hamas sein Land vernichten will. „Wenn jemand über den Zaun von Gaza kommt, will er uns ermorden oder entführen“, davon ist der Rentner überzeugt. Seit Wochen versuchten Menschen aus Gaza, die Grenze zu durchbrechen, „da konnte das Militär sich nicht auf die gewöhnlichen Techniken verlassen, und es wurde ausnahmsweise erlaubt, ,richtige‘ Munition zu benutzen“, rechtfertigt er den Tod von mindestens 60 Palästinensern. In Wahrheit sei das kein ziviler Aufstand gewesen, sondern ein „militärischer Versuch der Hamas, in Israel Unheil anzurichten“, wen wundere es da noch, dass „wir Israelis uns mit allen Mitteln verteidigen?“. Nicht anders drückte es der Pressesprecher der Armee in der Washington Post aus: Die Welt sei auf die Lügen von Hamas hereingefallen.

An ein Bett gefesselt

Während Premier Netanjahu seine größten politischen Erfolge feiert – die Aufkündigung des Iran-Abkommens wie den Umzug der US-Botschaft nach Jerusalem – und die Israelis noch vom Sieg beim Song Contest zehren, hat er noch etwas anderes erreicht: Niemand spricht mehr über die gegen ihn erhobenen Korruptionsvorwürfe.

Es gibt freilich Israelis, die sich dem offiziellen Narrativ widersetzen: An verschiedenen Orten des Landes protestierten sie gegen das Vorgehen der Armee und den Zynismus ihrer Regierung. Auch Rami Elhanan war dabei. 1997 verlor der Geschäftsführer der „Israelisch-palästinensischen Familien in Trauer für den Frieden“ seine 14-jährige Tochter bei einem Attentat der Hamas. Seither kämpft er für ein Ende der Besatzung. „Für die israelische Öffentlichkeit sind die Toten der letzten Woche Nummern, ohne Namen, ohne Familien. Sie gelten als Terroristen, deshalb ist es angeblich erlaubt, sie zu erschießen“, so die Presseerklärung seiner Gruppe. „Wir müssen endlich unseren eigenen Anteil erkennen und aufhören, auf unbewaffnete Zivilisten zu schießen.“

Vor Tagen ging die Polizei in Haifa brutal gegen friedliche Demonstranten vor und verhaftete 19 Israelis palästinensischer Herkunft, darunter Jafar Farah, Direktor des Mossawa-Zentrums für die Verteidigung der Interessen arabischer Bürger, der unversehrt abgeführt wurde. Mit einem gebrochenen Knie fand er sich an ein Krankenhausbett gefesselt wieder. „Den Chef einer angesehenen NGO wie einen Verbrecher zu behandeln, ist inakzeptabel“, sagt Rolly Rosen. Weder seine Familie noch sie durften ihn besuchen. „Man behandelte uns im Hospital wie Staatsfeinde“, so die ehemalige Leiterin des Haifa Shared City Project des New Israel Fund. Nach seiner Entlassung Anfang der Woche nannte Farah den Vorfall „eine Schande für die Demokratie“.

Dass es in Israel je eine formale demokratische Linke gegeben hätte, stellt Yael Berda in Frage. Die Rechtsanwältin und Soziologin an der Hebrew University sieht viele Israelis gefangen zwischen der parlamentarischen Opposition, die sich von der Regierung kaum unterscheidet, und der Zivilgesellschaft, die die eigentliche Opposition darstellt. „Diese Menschen haben ethisch-moralische Zweifel, doch sie können sich nicht artikulieren.“ Einerseits würden sie unter dem manipulativen Einfluss von „Hasbara“ (der Öffentlichkeitsarbeit der Regierung) stehen, andererseits halte die zivilgesellschaftliche Opposition ihnen vor, sich politisch nicht zu positionieren. Berda wünscht sich eine Atmosphäre, in der auch Zweifler Gehör finden, ohne sofort gemaßregelt zu werden. Die Feministin will diese schweigende Mitte stärken, um Veränderungen herbeizuführen. „Wir alle sind Teil desselben politischen Systems, doch wir haben uns nie gefragt, wer wir eigentlich sein wollen. Wir brauchen eine Kultur des demokratischen Dialogs!“

Hang zur Festungsmentalität

Die Autorin und Aktivistin Rela Mazali stimmt ihr zu: „Es wirkt sich negativ aus, wenn behauptet wird, keiner hinterfrage mehr das krude Narrativ der Regierung, die Friedensbewegung sei tot.“ Tatsächlich gebe es zahlreiche Aktivitäten gegen die Besatzung, die aber kaum wahrgenommen würden, teilweise infolge der aggressiven Marginalisierung der zivilgesellschaftlichen Bewegungen durch die Regierung. Bezüglich der Toten im Gazastreifen zieht Mazali einen anderen Schluss als Uri Bloch: „Die Demonstranten sind im Schnellverfahren hingerichtet worden, eine Praxis, die hier seit Jahren üblich ist, früher undercover, heute ganz öffentlich, zumeist ohne juristische Folgen“.

Mazali schämt sich für die Handlungen ihrer Regierung, zugleich respektiert sie die Menschen in Gaza, die überwiegend friedlich auf ihre Anliegen aufmerksam machten: „Der Marsch der Rückkehr zeigt, dass diese politischen Aufgaben nicht einfach vom Tisch sind“, so die Feministin, die sich unter anderem in Gun Free Kitchen Tables gegen die Verbreitung von Kleinwaffen und die damit verbundene Gewalt engagiert.

„Die meisten Israelis dachten, mit unserem Rückzug aus Gaza 2005 sei die Besatzung beendet und die unmenschlichen Lebensumstände dort seien nicht mehr unser Problem“, kritisiert Menachem Klein, Professor an der Bar-Ilan Universität und Gastdozent am Kings College London. Seiner Analyse nach – bestätigt durch einen Bericht der Haaretz-Korrespondentin Amira Hass – beteiligten sich am Marsch zur Grenze Menschen aus der gesamten Gesellschaft Gazas, auch Gegner von Hamas. „Es war ein Familienevent, auf dem Palästinenser über ihre Identität und die Nakba diskutierten“, so der Autor des Buches Jerusalem, geteilt, vereint, das gerade erschienen ist. Die meisten Israelis seien gesteuert von einer „Festungsmentalität“ und hätten nicht begriffen, worum es hier eigentlich ging. Auch die parlamentarische Opposition nicht. Die ignoriere zudem das palästinensische Flüchtlingsproblem: „Der Konflikt dreht sich in Wahrheit um 1948 und die Flüchtlinge, weniger um 1967 und die Besatzung. Wir Israelis müssen uns mutig den Ereignissen von 1948 stellen, sonst wird es keinen Frieden geben“, sagt Klein, der 2000 zu Israels Verhandlungsteam in Camp David gehörte.

Die US-Administration kündigte nun an, im Juni ihren Friedensplan für die Region vorzulegen. Laut palästinensischen Medienberichten befürwortet der saudische Kronprinz den Vorschlag, obwohl die Palästinenser mit ihm nicht einverstanden sind. „Mit Jerusalem hat Trump ja schon deutlich gemacht, wie er den Konflikt zu lösen gedenkt“, sagt Ziad Abu Zayyad, ein Autor aus Ostjerusalem. Er und Menachem Klein betonen, dass nur die Muslime über ihre heiligen Stätten in Jerusalem entscheiden könnten und sie einer israelischen Kontrolle der al-Aqsa-Moschee niemals zustimmen würden. Sollte die israelische Regierung unilaterale Schritte ergreifen und weitere Teile der Westbank annektieren, würden Palästinenser, Jordanier und Muslime reagieren. „Das wird auch für sie Folgen haben – darüber müssen sich die Westeuropäer im Klaren sein“, warnt Klein. Der Kampf der Narrative geht weiter, doch die Prognosen für den Nahen Osten stehen schlechter denn je.

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