Ein Coup, der Literaturgeschichte geschrieben hätte
Bachmannpreis Der Autor Alexandru Bulucz sorgt für Sprengstoffalarm und gewinnt einen Preis bei den 46. Tagen der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt
Chaos am Flughafen. Und ich auch noch spät dran. Die Zeit bis zum Boarding hätte in vorpandemischen Zeiten locker gereicht, wegen des Mangels an Sicherheitspersonal würden die Flughafenrituale jetzt doppelt so lang brauchen. Ich fasste mir also ein Herz und drängelte mich vor, mit einigen anderen Teilnehmer*innen des diesjährigen Bachmannwettbewerbs, die ebenfalls von Berlin via Wien nach Klagenfurt am Wörthersee flogen. Dann schlug an meiner Tasche auch noch der Sprengstoffalarm an.
Es war dieselbe Tasche, die ich in der Klinik mit dabei hatte, aus der ich zehn Tage zuvor entlassen worden war. Aber das ist eine andere Geschichte. Ich hätte sie vor dem berühmt-berüchtigten Wettlesen in der Öffentlichkeit erzählt, doch das hätte sic
lt, doch das hätte sich auf ungute Weise mit meinem Wettbewerbstext vermengt. Es geht darin um einen, der sich mit großen Schritten und mehr rational denn irrational auf seinen frei gewählten Abgang zubewegt. Keine Sorge, bei mir war es nicht so schlimm, mir geht es gut und inzwischen schon viel besser als davor. Na, wie dem auch sei: Meine Tasche hatte im Krankenhaus irgendeine Strahlung abbekommen, deshalb der Sprengstoffalarm. Es war knapp, am Ende saß ich im Flieger und flog ins österreichische Paradies.Ich kann mich fast über nichts beschweren, was ich in Klagenfurt erlebte. Und mehr noch: Heute, kurz bevor ich anfing, diesen Artikel zu schreiben, war ich immer noch derart überwältigt, dass ich mich kurz fragte, ob mir jemals wieder so etwas Schönes zustoßen würde. Ich weiß, die Frage klingt übertrieben, doch sie zeugt von übertroffenen Erwartungen.Was die Jury betrifft, reiste ich mit großen Vorurteilen im Gepäck. Die meisten Juror*innen kannte ich nur aus dem Fernseher, von den vergangenen Austragungen der Tage der deutschsprachigen Literatur. Ich befürchtete, dass an der Selbstinszenierung der Kritik das Eigentliche Schaden nehmen könnte, nämlich die Literatur und ihre Autor*innen, die jedes Jahr etwa 30 Minuten lang schweigend dem Urteil der Jury ausgesetzt sind. Doch ich wurde eines Besseren belehrt.Dieses Jahr lief es unter den Juror*innen harmonischer, sachlicher, respektvoller. Das mag auch der Pandemie geschuldet sein. Dieses Jahr dürfte jede*r die persönliche Begegnung vor Ort noch mehr geschätzt haben. Eine milde Jury eingeschlossen. Oder war ich es, der aufgrund der eigenen Beteiligung milder im Urteil gestimmt war? Ein Beispiel: Am meisten gefürchtet hatte ich die Kritik Philipp Tinglers, häufig als Enfant terrible der Klagenfurter Kritik empfunden. Und tatsächlich war er es, der meinem Text gegenüber am kritischsten war. Da ich jedoch als Vierter las, hatte ich bereits eine neue Einsicht gewonnen, nämlich dass jedes Mitglied der Jury eine bestimmte Funktion erfüllt. Durch Tinglers energischere Art der Kritik, derjenigen Marcel Reich-Ranickis gar nicht unähnlich, kommen Diskussionen bisweilen erst in Gang. Man kann es auch als Trick verstehen: Die überspitzte oder übertriebene Kritik lässt Raum für moderatere Töne oder gar Lob. Ergo: Die Diversität der Juror*innen muss nicht unbedingt nur aus deren Herkunft, Klasse oder Geschlechtsidentität abgeleitet werden, sondern kann auch als funktionelle Vielfalt verstanden werden. Klaus Kastberger zum Beispiel ist Professor für Germanistik. Seine Herangehensweise ist offensichtlich eine andere als diejenige Philipp Tinglers.Natürlich hatte ich insgeheim gehofft, gerade auch Kastbergers Sympathien für meinen Text zu gewinnen. Ich habe ja selbst Literaturwissenschaft studiert, und es bahnte sich eine akademische Laufbahn an. Auch wenn ich dabei krachend gescheitert bin, habe ich immer noch einen immensen Respekt vor der Literaturwissenschaft und vor der Genauigkeit gelungener literaturwissenschaftlicher Analysen, die das Ergebnis jahrzehntelanger Lektürearbeit sind. Meine Hoffnung wurde, was Kastberger angeht, Wirklichkeit. Seine Ausführungen zu meinem Text gehören zum Schönsten. Als ich dann den zweiten, nämlich den Deutschlandfunk-Preis bekam, drehte ich den Spieß kurzerhand um und hielt auf 3sat eine kleine Laudatio auf die Jury. Das dürfte natürlich nicht jede*r gut finden, aber es war mir ein ernst gemeintes Anliegen in Dankbarkeit.Und ich habe noch gar nicht über die Begegnungen mit den anderen Autor*innen des Jahrgangs geschrieben, über das nächtliche Nacktbaden im Wörthersee, über das eine Glas zu viel, über den herzlichen Zusammenhalt der Gruppe, über die potenziellen neuen Freundschaften, etwa mit Hannes Stein, der mich jeden Tag mit seinem reichen kulturellen Wissen zum Lachen brachte. Und ich habe noch nicht das Coup-Vorhaben der Gruppe erwähnt. Wir hätten für die Umsetzung Einstimmigkeit gebraucht, am Ende waren zwölf dafür, zwei dagegen: Wir hatten vor, das gesamte Preisgeld, etwa 60.000 Euro, auf alle 14 Teilnehmer*innen umzuverteilen und die Gruppe als solche und mit einem einzigen, aus 14 Kapiteln bestehenden Text zur Bachmannpreisträgerin zu machen, es hätte keinen Verlierer gegeben. Wir hätten Literaturgeschichte geschrieben.Am Klagenfurter Flughafen stellte sich heraus, dass ich für meine Rückreise ein sogenanntes Stand-by-Ticket hatte und das Flugzeug überlastet war. Ich hätte mich über die neuerliche unvorhergesehene Entwicklung gefreut. Am Ende saß ich doch im Flieger und zog aus dem Paradies aus.