Norbert Mappes-Niediek zu Jugoslawien: Die unheilvolle Dynamik des Krieges
Buch „Krieg in Europa. Der Zerfall Jugoslawiens und der überforderte Kontinent“ lautet der Titel des herausragenden Buchs von Norbert Mappes-Niediek. Der Südosteuropa-Experte schreibt über den Zerfall Jugoslawiens. Ein Standardwerk
Die vorliegende Analyse über den Zerfall Jugoslawiens ist eine der gründlichsten Darstellungen, national wie international, die je zu diesem Thema erschienen ist – als Literaturübersetzerin und Kulturvermittlerin befasse ich mich seit Jahren mit der Geschichte Südosteuropas und wage das zu beurteilen. Darüber hinaus: Mit Blick auf die Ukraine liest sich Norbert Mappes-Niedieks Buch Krieg in Europa aktueller denn je.
Die ethnische Zugehörigkeit bildete die Grundlage der jugoslawischen Föderation, Titos Motto von der „Brüderlichkeit und Einheit“ war ihr verbindendes Element: „Er konzentrierte sich darauf, die altvertrauten nationalen Gegensätze auszugleichen“, schreibt Mappes-Niediek, und als das fragile sozialistische
gile sozialistische Staatsgebilde zerfiel, stand die Idee der nationalen Souveränität gegenüber der bisherigen Staatsordnung. In der ärmsten autonomen Provinz Kosovo wurde der Ruf nach mehr Selbständigkeit laut, die westlichste Republik Slowenien forderte demokratische Wahlen. Ihre Vorbilder, so Mappes-Niediek, waren die europäischen Nationalstaaten. Auf dieser Folie erklärt der Autor nun verschiedene Verläufe und Phasen der Kriege, die sich zwischen 1991 und 1999 auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawiens abspielten, wobei die komplexen Hintergründe, Motive und Wechselwirkungen für die Leser:innen sehr gut verständlich werden.Eine europäische TragödieIndem Mappes-Niediek die politischen, ideologischen und historischen Ursachen in den Vordergrund stellt, entgeht er der üblichen Falle, den Balkan zu exotisieren, er kommt ohne Stereotypen aus, insbesondere weil der Autor regionale Gegebenheiten kenntnisreich beschreibt und immer wieder Perspektivwechsel vornimmt. Ohne übertrieben in die Vergangenheit zu blicken, konzentriert er sich auf die Kriegsjahre – eine Zeittafel am Ende des Buchs ermöglicht einen kurzen Überblick.Der Krieg im ehemaligen Jugoslawien stand im Kontext der Zäsur der europäischen Nachkriegsordnung, die symbolisch durch den Fall der Berliner Mauer markiert war. In einem ähnlichen Kontext steht auch der Krieg in der Ukraine, denkt man wiederholt beim Lesen, denn Mappes-Niediek widmet den Debatten, die damals zwischen „Interventionisten“ und „Pazifisten“ im gesamten Westen geführt wurden, viel Aufmerksamkeit. Nicht nur das ehemalige Jugoslawien, sondern auch die weltanschaulichen Diskurse, die nach dem Zweiten Weltkrieg gefestigt schienen, hätten sich in einer Art Zerfall befunden.„Darf man intervenieren, wenn in einem Land Menschenrechte verletzt und Bürgerkriege geführt werden? Muss man es nicht gar? Und wenn ja, wer darf oder muss es tun?“ Mappes-Niediek zeigt auf, wie in diesen Streitigkeiten „langjährige diplomatische Doktrinen“ umgeworfen wurden, wie diese „schließlich sogar das vertraute Koordinatensystem von ‚rechts‘ und ‚links‘ durcheinander“ brachten. Der Fall Jugoslawien, macht Mappes-Niediek deutlich, weckte zahlreiche böse Geister – die Erwähnung des Kosovo in der „Grundsatzrede“ Putins verwundert deshalb nicht.Seit 1991 arbeitet Mappes-Niediek als freier Korrespondent für Südosteuropa unter anderen für Zeit, Frankfurter Rundschau, den Freitag, er beherrscht mehrere Sprachen der Region. Mappes-Niedieks langjährige Expertise ist in dieses Buch eingegangen. Entstanden ist ein Standardwerk, eine erzählerische Gesamtdarstellung für jene europäische Tragödie, die sich im ehemaligen Jugoslawien abgespielt hat und mit der der Traum von einer gerechten Gesellschaft, sowie der Traum vom Zusammenleben verschiedener Völker unter den Trümmern der zerschossenen Städte und in Massengräbern begraben wurden.Eine weitere Analogie zwingt sich während der Lektüre unweigerlich auf: Solange einer entfesselten Kriegsmaschinerie nichts entgegengesetzt werden kann, gibt es für diese keinen Grund aufzuhören, bevor die Maschinerie ihre Kriegsziele – wie vermessen oder ungerecht auch immer sie anmuten – erreicht hat. Was die Balkankriege betrifft – nur die Tatsache, dass zumindest nach der Beendigung der Kriege einige bedeutende Akteure vor dem Internationalen Gerichtshof angeklagt werden konnten, bietet etwas Trost und eine schwache Genugtuung.Wenn man rechtzeitig erkennen würde, dass jemand einen Krieg plant, könnte man ihn vielleicht verhindern? Sicher nicht, indem wir von den Angegriffenen verlangen, sich zu ducken, denn das funktioniert nicht – auch das lernen wir aus diesem Buch. Selbst vollständig schutzlose Menschen haben den Impuls, sich zu verteidigen, und egal wie unterlegen sie sind, haben sie ihre Würde – und sie vergessen die ihnen zugefügte Ungerechtigkeit nicht, was neue Konflikte mit sich bringt. Wer überlebt, versucht sich auf eine Art zu organisieren, die keine Position der Schwäche mehr zulässt. Neue Spiralen der Gewalt entstehen, wie wir sie nicht nur auf dem Balkan oder im Nahen Osten kennen. Die Beschaffung von Waffen unter den Bedingungen eines Waffenembargos, die Guerillataktik, das Ausharren in Wäldern und in Kellern, das Frieren und Hungern in den belagerten Städten, all das sind Formen des Widerstandes und des Überlebens unter widrigen Umständen.Verzicht auf Anerkennung?Manchmal – und auch das beobachtet Mappes-Niediek genau – handelte es sich beim Drangsalieren der Zivilbevölkerung nicht unbedingt im engen Sinne des Wortes um einen Krieg, sondern um „ethnische Säuberungen“ unter dem Deckmantel des Krieges. Es war die sprichwörtliche Gelegenheit, die Diebe und Mörder machte. Als sich die Angegriffenen organisiert haben, um sich zu wehren, verübten sie ebenfalls Verbrechen, setzten ebenfalls ihre territorialen Ziele. Die unheilvolle Dynamik des Krieges hatte ihren Lauf genommen.Wie viele Gelegenheiten zum Frieden wurden versäumt? Es ist die Stärke des Autors, dass er eigene Einschätzungen behutsam formuliert und stets ausführlich begründet. An sehr wenigen Stellen teilte ich nicht seine Meinung, etwa bei der Beurteilung der Entwicklung in Bosnien und Herzegowina nach der Anerkennung von Slowenien und Kroatien. Weder der Autor noch ich können wissen, was gewesen wäre, wenn es diese Anerkennung nicht gegeben hätte. Vielleicht hätte der Verzicht auf die Anerkennung nur zu einer Aufschiebung des Konflikts geführt. Der russische Krieg in der Ukraine, der spätere Krieg im Kosovo, der nach Jahren des friedlichen Widerstandes doch eskalierte, sowie das aktuelle Konzept der „serbischen Welt“, angelehnt an das Konzept der „russischen Welt“, bekräftigen mich in meiner Meinung – doch das Problem mit Meinung ist, dass man sie nicht beweisen kann.An einer anderen Stelle heißt es: „Rückblickend urteilte der französische General Jean Cot, der später die UNO-Friedenstruppen in Jugoslawien führte: ‚Mit vielen anderen bin ich der Überzeugung, dass man, um die Entschlossenheit der europäischen Gemeinschaft zu zeigen, die Serben im Oktober 1991 in Dubrovnik und Vukovar mit drei Schiffen, drei Dutzend Flugzeugen und dreitausend engagierten Männern hätte aufhalten können.‘ Vieles spricht dafür, dass das Urteil zutrifft.“ Dieser Einschätzung würde ich unbedingt zustimmen, aber auch hier – wer will da sicher sein?Es war der erste Krieg in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg – und die hilflosen Friedensverhandlungen waren kein Glanzstück der europäischen Politik. Mappes-Niediek analysiert die Bemühungen und das Versagen europäischer Friedenspolitik, jedoch stets ohne erhobenen Zeigefinger. Die Überforderung der Politiker:innen und der Dipomat:innen erscheint genauso menschlich und nachvollziehbar wie das Versagen der einheimischen Akteure, die sich für den Frieden eingesetzt haben, etwa der letzte Ministerpräsident Jugoslawiens Ante Marković oder der ermorderte Polizeichef von Osijek Josip Reihl-Kir.In einer der eindrucksvollsten Szenen des Buchs, das sich bisweilen wie ein spannender Roman liest, schildert der Autor, wie der Vance-Owen-Friedensplan für Bosnien und Herzegowina scheiterte – und wie nicht einmal der Drahtzieher hinter all den Kriegen im zerfallenen Jugoslawien, der damalige serbische Präsident Slobodan Milošević, es vermochte, die bosnischen Serben umzustimmen und zur Unterzeichnung zu bewegen. Diese hätten ohne seine Unterstützung den Krieg in Bosnien und Herzegowina nicht führen können, doch da sie schon so blutige Hände hatten, da sie ihre nicht-serbischen Nachbarn so sehr drangsaliert hatten, bekamen sie Angst vor dem Frieden. Der Friedensplan scheiterte...Und nur einige Seiten weiter im Buch geht auch der Krieg weiter: „Einzige Lichtquelle draußen waren oft die wenigen Autos, die noch fuhren. Manchmal erfasste ein Scheinwerfer plötzlich eine ganze Traube von Menschen, die sich an einer brennenden Mülltonne zu wärmen versuchten.“Placeholder authorbio-1Placeholder infobox-1
×
Artikel verschenken
Mit einem Digital-Abo des Freitag können Sie pro Monat fünf Artikel verschenken.
Die Texte sind für die Beschenkten kostenlos.
Mehr Infos erhalten Sie
hier.
Aktuell sind Sie nicht eingeloggt.
Wenn Sie diesen Artikel verschenken wollen, müssen Sie sich entweder einloggen oder ein Digital-Abo abschließen.