Tijan Silas „Radio Sarajevo“: Ich tue so, als gäbe es mich
Jugoslawien Der Autor Tijan Sila verarbeitet in „Radio Sarajevo“ sein Aufwachsen im Krieg, der für ihn bis heute nicht aufgehört hat – ein kurzer, persönlicher Roman, der an den richtigen Stellen Persönliches mit Fakten untermauert
Als am 17. August 2023 in Sarajevo der Schriftsteller Marko Vešović starb, überschlugen sich die Zeitungen mit Nachrufen; einer trug die Überschrift: „Ich bin gestorben, aber immer noch hier.“ Es war ein Vers aus einem seiner Gedichte, aus dem ich mir auch den Titel für diese Besprechung geborgt habe: „Ich tue so, als wäre ich am Leben. Ich tue so, als gäbe es mich.“ Darin hat Vešović das Gefühl der Bewohner von Sarajevo ausgedrückt, die zwar die Belagerung überlebt haben, deren Traumata aber zu einem Teil ihrer Identität geworden sind. Auch seine Verse wurden ein Bestandteil dieser Identität, er war ein Barde der kollektiven Wunde und ein Chroniker des Krieges; seine Kolumnen, die er zwischen Apr
April 1992 und Juni 1994 geschrieben hat, veröffentlichte er 2003 in einem Sammelband mit dem Titel Der Tod ist ein Meister aus Serbien.Ich vermute, dass der deutsche Schriftsteller bosnisch-herzegowinischer Herkunft, Tijan Sila, Vešović nicht oder nur flüchtig kannte. Sila gehört zu einer anderen Generation und inzwischen zu einer anderen Sprache. Als er nach Deutschland kam, musste er sich zunächst unter den Gleichaltrigen behaupten, er spielte in einer Punkband und hatte vermutlich kein Interesse an den Dichtern, die so alt wie seine Eltern waren, mit denen er genug Probleme hatte. Silas Mutter erkrankte ernsthaft an Paranoia, der Vater bekam Krebs und siechte dahin, wobei er die Vergangenheit und seine Rolle darin anders sah als sein Sohn. Es war das Schicksal einer Elterngeneration, deren Kinder in Sarajevo hungerten, froren, verwundet und getötet wurden, und deren großer Dichter im August dieses Jahres starb. Als ich Anfang September den Roman von Tijan Sila las, dachte ich nicht ohne Melancholie daran, dass Vešović einen Nachfolger bekommen hat, und dass seine Bemühungen, die längste Belagerung einer Stadt im 20. Jahrhundert vor dem Vergessen zu bewahren, mit diesem Roman fortgesetzt werden.Am Anfang des Romans bildet Suffragette City von David Bowie aus dem Radio den Soundtrack, der von Granatenexplosionen, Alarmsirenen, Gewehrfeuer übertönt wird. Der Vater behauptet, dass es sich bloß um einen Zwischenfall handele, denn seiner Meinung nach wollen die Menschen keinen Krieg, sondern Frieden, doch er liegt falsch. Nicht unbedingt damit, was die Menschen wollen, sondern mit seiner Einschätzung der politischen Lage. Dreißig Jahre später wird sein Sohn eine der kürzesten und prägnantesten Definitionen des Kriegs niederschreiben: „Serbien nahm die Auflösung Jugoslawiens als eine Auflösung des eigenen Herrschaftsgebiets wahr – und die Unabhängigkeitsbestrebungen der anderen Bundesländer als einen Aufstand der Untergebenen.“Eine der vielen Stärken dieses kurzen Romans ist die gelungene Mischung aus solchen sachlich präzisen Sätzen, die zur Klärung der Umstände dienen, und die an wenigen, aber passenden Stellen der Geschichte helfen, das persönliche Erleben mit Fakten zu untermauern. „Am Ende kämpfte jeder gegen jeden.“ Die politischen Implikationen benennt der Ich-Erzähler mit der gleichen Genauigkeit, mit der er das soziale Gefüge innerhalb der Nachbarschaft beschreibt oder die zwielichtige Rolle der Stadtganoven, die zu den ersten Verteidigern der militärisch vollständig unterlegenen Stadt wurden.Ich habe geglaubt, dass mich nichts mehr in Bezug auf den Krieg im ehemaligen Jugoslawien erschüttern kann. Ich fühlte mich so abgebrüht wie Tijan Sila – der erfreulicherweise gar nicht versucht, sein Roman-Ich als fiktional zu verschleiern, sondern uns mit der Offenheit einer Joan Didion an seiner Biografie teilnehmen lässt –, wenn er schreibt: „ich verbrachte Jahre damit, meine Gefühle niederzukämpfen“. Und doch erlebte ich mit dem Angriff auf die Ukraine im Februar 2022 eine Retraumatisierung, und doch suchte ich die Nachrufe auf Marko Vešović im Internet, und doch kamen mir bei der Lektüre von Radio Sarajevo immer wieder die Tränen. Dabei verzichtet der Autor auf einen stilistischen Überbau, der auf die Emotionen einwirken soll. Es ist ein Coming-of-Age-Roman, doch die fiktionale Perspektive des Kindes wird nicht künstlich aufrechterhalten. Wir wissen, dass der Ich-Erzähler aus der Gegenwart zu uns spricht, und doch gelingt es ihm mühelos, uns in dieses Kind und seinen Kriegsalltag zu versetzen. Jedes Mal, wenn wir mit ihm und seinen Spielkameraden durch die zerschossene Plattenbausiedlung streifen, wenn er geschlagen wird, wenn er sich langweilt, weil er keine Batterien für sein Radio hat, wenn ihm dieses Radio weggenommen wird, wenn er in zerbombten Kiosken nach Pornoheften sucht, um sie den UN-Soldaten zu verkaufen, werden wir restlos in seine innere Welt versetzt. Das empfindsame Kind beobachtet nicht nur den Krieg in Bezug auf das Töten und die Zerstörungen, sondern auch auf seine sexistische Seite, die wie die Essenz aller anderen Missstände erscheint: Junge Mädchen werden den UN-Soldaten zugeführt, ein Mädchen, das von serbischen Soldaten vergewaltigt wurde, wird von irgendwelchen Jungen begrapscht, Tijans Freunde sind zynisch und erbarmungslos geworden, auch sie wollen die Mädchen haben, die an die ausländischen Friedenstruppen verkauft werden. Sie schnüffeln Klebstoff und geben sexistische Sprüche von sich. Wenn er sie nach vielen Jahren wieder trifft, dann sind nicht nur sie, sondern auch er wie aus einem Gedicht von Marko Vešović herausgefallen:„Der Krieg hat niemals aufgehört“ ist einer der letzten Sätze des Romans.Placeholder infobox-1Placeholder authorbio-1
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