Wie es ist, niemand zu sein

Ich-Verlust Anna Weidenholzer zeigt in "Der Winter tut den Fischen gut" eindrücklich, was Arbeitslosigkeit aus Menschen macht
Ausgabe 10/2013

Es beginnt mit einem Spiegel, der links neben der Eingangstür hängt. Auf dem goldenen Rahmen kleben Zettel, beschrieben mit großbuchstabigen Sätzen, die Maria aufgeschnappt hat und allmorgendlich laut und lächelnd rezitiert. Ihr Repertoire enthält außerdem die platten Sprüche ihres früheren Chefs sowie ein paar Ego-Coaching-Formeln: „Ich denke positiv, das Leben ist eine Herausforderung. Man muss nur stark genug wollen, dann wird alles gut.“

Als das Telefon klingelt und eine Frauenstimme behauptet, sie interessiere sich für Marias Meinung zum Service ihrer Bankfiliale, legt sie den Hörer auf. Maria ist wohl kaum die richtige Ansprechpartnerin. Gerade hat ihr das Amt das Arbeitslosengeld gestrichen, weil sie sich nicht auf die Stelle als Wurstverkäuferin bewerben wollte. Mit Textilien kennt sich Maria aus, 19 Jahre lang hat sie in einer Boutique gearbeitet, aber doch nicht mit Wurst!

Dabei ist Maria keineswegs passiv. Sie müht sich eifrig, aus fremden Äußerungen und vielen Konjunktiven ein neues Ich zusammenzubasteln, weil das alte auf dem Markt keine Chance hat. Es klingt nach den ganz normal perversen Anforderungen an Arbeitslose im Spätkapitalismus. In Der Winter tut den Fischen gut zeigt die 1984 in Linz geborene Anna Weidenholzer, wie sinnlos diese Selbstoptimierung ist – und wie demütigend.

Weidenholzer hat für ihren zweiten Roman einen ungewöhnlichen Aufbau gewählt: Sie erzählt die Geschichte der 47-jährigen Maria Beerenberger rückwärts. Kapitelweise schreitet der Roman fort in die Vergangenheit. Am Ende ist der Leser in der Kindheit der Verkäuferin Maria, der kinderlosen Witwe, die früher einmal Sängerin werden wollte, angelangt. Den Postkarten-Gruß des Onkels lässt das Mädchen wie eine kostbare Philosophie über die Lippen gleiten: „Ich bin immer noch hier, wo es regnet und manchmal die Sonne scheint“.

Sinnlose Selbstoptimierung

Dass sich hinter der einsilbigen, repetitiven Protokoll-Melodie von Weidenholzer mehr verbirgt als die heimliche Freude an der Lakonie der Einsamkeit, deutete schon ihr erster Erzählband an: Der Platz des Hundes, der 2010 erschien und in Deutschland eher unbeachtet blieb. Das Debüt bescherte der heute in Wien lebenden Autorin dafür einige Stipendien, unter anderem im Berliner LCB. So kommt der jetzige Auftritt auf der großen Bühne nicht ganz so überraschend.

In ihrem Erstling erzählte die Autorin von Hermine, die auf dem Grab ihres Liebsten Gemüse anbaut, denn „sie mag den Gedanken, dass sie Tomaten essen wird, die auf Hermann gewachsen sind“. Auch diesmal gestattet Weidenholzer der Heldin eine pikante Dosis irritierender Abgründigkeit: Die Vorstellung, dass die Nachbarin beim Fensterputzen stürzen könnte, erweckt bei Maria vor allem die Hoffnung, „dass bereits jemand neben der Frau kniet“, wenn sie herbeigeeilt kommt, und dass „das Genick schön gebrochen ist“.

In der Der Winter tut den Fischen gut wird nun die Exklusion durch die Gesellschaft zur Normalität. Die Erzählung vom Ich-Verlust der Maria Beerenberger gelingt hinreißend individuell und ist doch stellvertretend für so viele Biografien. Jeder Niemand war einmal jemand.

Der Winter tut den Fischen gut Anna Weidenholzer Residenz 2012, 234 S., 21,90 €

Aline Schmitt ist Medien- und Literaturkritikerin

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