Antrittskonzert von KIRILL PETRENKO

Berliner Philharmoniker Atemberaubender Saison-Start mit Berg und Beethoven

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Heute Abend wird die Neunte Beethovens vorm Brandenburger Tor zu hören und zu sehen sein - Kirill Petrenko, der neue Chefdirigent der Berliner Philharmoniker - gibt (kostenfrei für alle, die das live erleben wollen!) seinen "Einstand" unter freiem Himmel; das Event wird live im Internet und auch weltweit über TV und Rundfunk übertragen. Es gilt zweifelsohne nicht bloß als Berliner Großereignis, ohne jede Frage!

Jenem Hype an frischer Luft ging gestern das als offizielles Antrittskonzert des Dirigenten bei "seinem neuen" Orchester kommunizierte Berg-und-Beethoven-Konzert voraus, d.h. dass vor der Neunten noch die Lulu-Suite von Alban Berg auf dem Programm gestanden hatte...

Eingebetteter Medieninhalt

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Dem Vernehmen nach wäre Kirill Petrenko erst durch einen "letzten Telefonanruf" von den Berliner Philharmonikern zur endgültigen Übernahme des womöglich untoppbarsten Dirigentenpostens auf der Welt überzeugt worden, will sagen: Erst nach diesem ominösen Anruf [so wie es auf rbb-Kultur vorgestern noch einmal zu hören war] hätte er sich gottlob erweicht und definitiv zugesagt! Bei dieser weltweit einmaligen Dirigentenwahl (das muss man einfach wissen), wo dann also die Orchestermusiker einzig-allein das Sagen haben, läuft das so ab, dass sie halt den ihrer Meinung nach weltbesten Dirigenten für sich "im Geheimen" vorbestimmen, ohne ihn natürlich - jedenfalls nicht zu dem Zeitpunkt ihrer basisdemokratisch abgehaltenen geheimen Wahl - vorher gefragt zu haben, ob er das auch wirklich will; sie gehen praktisch davon aus, dass der durch sie im Endentscheid bestimmte Favoritensieger hochbeglückter Maßen zusagt und die Wahl letztendlich annimmt... Diesmal lief das allem Anschein nach ein bisschen schwieriger als bei den beiden Malen vorher, als sis Claudio Abbado (1933-2014)oder Simon Rattle für sich auserkorten.

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Von dramaturgischer Delikatesse zeugt, Beethovens allumspannend-glückverheißende Schiller'sche An die Freude-Ode mit dem Wedekind'schen und von Alban Berg sowohl als Oper wie (zur Vorbereitung seiner Oper) als Orchester- und Sopransuite komponierten Männerfresserinnen-Drama Lulu programmatisch zu verhochzeiten. Ja, Mord & Totschlag (Jack the Ripper) vs. "Alle Menschen werden Brüder" = darauf muss man erst mal kommen; doch egal.

Was auffällt: Dass Petrenko insbesondere die mörderischenLulu-Schläge noch um einen Deut gewalttätiger also mörderischer und verhässlichender vorführ'n lässt. Und Marlis Petersen (im Juni noch Petrenkos Münchner Salome) lässt mittels ihres kostprobengerechten Lied der Lulu hochverheißungsvoll erahnen, was sie sonst noch alles so aus diesem Mädchen-Frau-Teufel herauszukitzeln in der Lage wäre; allerdings: "Lulu! Mein Engel", wenn sie dann am Schluss der Suite verwandelt in die Gräfin Geschwitz-Rolle übergehen sollte, blieben Petersen/Petrenko uns dann leider schuldig, und das ohne jeden nennenswerten Grund.

Petrenko hätte sich die Tage vor der Auffühung der Neunten Beethovens Originalskript in der Staatsbibliothek in Ruhe angesehen. Allgemein bekannt dürfte ja sein, dass die vom Bonner Maestro festgelegten Tempi für bisher übliche Dargereichtseinsweisen "herkömmlicher" Klangkörper vermeintlich vielzu schnell waren und sind; ja und ich hatte lediglich bei Referenzkonzerten im Bereich der historischen Aufführungspraxis hie und da (Spering, Currentzis) "authentisch" Klingendes vernommen. Dass in diesem wissenden und experimentierfreudigen Zirkel jetzt auch die Berliner Philharmoniker zum Mitmischen bereit sind, ist die faktische Entdeckung dieses großartigen Antrittsabends, wo Petrenko eine nicht bloß (von der Oberflächenwahrnehmung her) durchgehetzte, sondern umso scharfkantiger pigmentierte Neunte Sinfonie zur Disposition zu stellen sich zum Ziel gesetzt hatte.

Atemberaubend!

[Erstveröffentlicht auf KULTURA-EXTRA am 24.08.2019.]

ANTRITTSKONZERT KIRILL PETRENKO (Berliner Philharmonie, 23.08.2019)
Berg: Symphonische Stücke aus der Oper Lulu für Sopran und Orchester
Ludwig van Beethoven: Symphonie Nr. 9 d-Moll op. 125 mit dem Schlusschor über Schillers Ode An die Freude
Marlis Petersen, Sopran
Elisabeth Kulman, Mezzosopran
Benjamin Bruns, Tenor
Kwangchul Youn, Bass
Rundfunkchor Berlin
Choreinstudierung: Gijs Leenaars
Berliner Philharmoniker
Dirigent: Kirill Petrenko

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Geschrieben von

Andre Sokolowski

Andre Sokolowski ist Inhaber, Herausgeber und verantw. Redakteur von "KULTURA-EXTRA, das online-magazin"

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